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Montag, 20. Mai 2024

Berlin:
Die kleine Windkraft in der Stadt


[4.4.2017] Windräder werden meist außerhalb der Stadtgrenzen betrieben. So genannte Windrails, hybride Anlagen zur Nutzung von Wind- und Sonnenenergie, könnten die Nutzung der Windkraft aber schon bald in die Städte transportieren. Berlin geht mit einem Pilotprojekt voran.

Ein Pilotprojekt in Berlin soll erste Daten zur Windkraftnutzung in der Stadt liefern. Karsten Mitzinger und Sven Köhler haben sich auf der Jahrestagung des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen kennengelernt. Mitzinger ist Chef der Energiedienstleistungstochter des kommunalen Wohungsunternehmens Gewobag, Sven Köhler ist Geschäftsführer des Schweizer Unternehmens Anerdgy, das ein Kleinkraftwerk zur Nutzung von Wind- und Sonnenenergie entwickelt hat. Mitzinger war sofort von den Windrails des eidgenössischen Erfinders überzeugt: „Normalerweise wird Windenergie auf Freiflächen oder Offshore geerntet. Die Idee, die Windenergie in die Stadt zu bringen, hat mich überzeugt und die Kombination von Wind und Sonne ist außerdem sehr innovativ. Um solche Ideen aber auf den Weg zu bringen, braucht es Pilotprojekte, bei denen es nicht in erster Linie um die Wirtschaftlichkeit, sondern um Weiterentwicklung geht.“

Smarte Dachkante

Wenige Monate später starteten beide Unternehmen gemeinsam mit den Berliner Stadtwerken ein solches Pilotprojekt am Blasewitzer Ring in Berlin-Spandau. Auf dem Dach eines zwölfgeschossigen Wohnhauses ging im November 2016 eine neuartige Solar-Windkraftanlage in Betrieb. Das Kombikraftwerk besteht aus mehreren in Reihe geschalteten Modulen, die mit Solarpaneelen bedeckt sind und im Wesentlichen aus einem Windkanal mit jeweils zwei Windturbinen bestehen. Die Module werden entlang der Dachkante installiert und bilden im Idealfall ein das ganze Dach umlaufendes System im Sinne eines Rails, einer Schiene, wobei im Berliner Pilot zunächst nur die nach Westen und die nach Osten ausgerichtete Dachkante bestückt wurde. Smarte Dachkante wollte Köhler seine Erfindung zunächst nennen. Da die meisten Interessenten aber von der Windnutzung fasziniert sind, entschied er sich schließlich für einen Namen, der das Wort Wind in den Vordergrund rückt: Windrail.
Das System funktioniert dabei wie folgt: Die Windrails nutzen die Druckunterschiede am Gebäude und verstärken den natürlichen Wind, der die Dachkante überströmt. Sven Köhler erläutert: „Der Wind, der in der Regel parallel zur Erdoberfläche strömt, trifft auf die Hauswand und wird von der Fassade nach oben abgelenkt. Während der Wind das Gebäude überströmt, reißt er einen Teil der auf dem Dach stehenden Luft mit sich. Der so entstehende niedrigere Druck auf dem Dach wirkt wie ein Sog und verstärkt den natürlichen Wind.“ Je mehr Module dabei hintereinander geschaltet werden, desto ertragreicher ist das Kraftwerk. Das liegt daran, dass sich die Windstille hinter einer langen Barriere besonders stark ausbildet und der Druckunterschied dann am höchsten ist. Bei der Verwendung nur eines Moduls kann der Wind hingegen stärker ausweichen.

Mehr PV ernten dank kühlem Wind

Ein weiterer positiver Effekt: Bei hohen Temperaturen leisten Solarmodule normalerweise weniger. Der Wind kühlt aber die Module, sodass diese einen besseren Ertrag liefern. Und auch so ergänzen sich Wind- und Sonnenenergie nahezu perfekt. Denn während die Winde im Frühling und im Herbst sowie morgens und abends am stärksten wehen, scheint die Sonne mittags und im Sommer am kräftigsten.
Allerdings gibt es Einschränkungen: „Das höchste Potenzial haben Windrails in dicht besiedelten Gebieten mit starken Lokalwinden“, sagt Sven Köhler. „Wind und tendenziell auch Höhe helfen, viel hängt aber auch von den umliegenden Gebäuden ab.“ Damit die Druckunterschiede groß genug sind, sollte das Gebäude deshalb mindestens sieben Stockwerke hoch sein. Auch können die Kleinkraftwerke bislang nur auf Flachdächern angebracht werden. Und ganz klar: Während sich eine freistehende Anlage im Wind dreht, können die Windmodule nur den Wind aus jeweils einer Richtung nutzen. Da sich Deutschland und Mitteleuropa aber in der Westwindzone befinden, ist die höchste Ausbeute entsprechend auf der Westseite des Gebäudes zu erwarten. „Der Osten und der Süden funktionieren aber auch gut und im Norden funktioniert auch die Nordrichtung“, erläutert Köhler, der zuvor beim französischen Energiekonzern Alstom in der Sparte Erneuerbare Energien gearbeitet hat. Durch eine Rundum-Bestückung des Daches kann jedoch auch mit der Windrail-Technik der komplette Wind – unabhängig davon, aus welcher Richtung er kommt – in Ökostrom umgewandelt werden.

Belastbare Messungen abwarten

Die Energieerzeugung ist neben Gestaltung und Technik nur ein Aspekt der smarten Dachkanten. Diese können nämlich außerdem den Blitzschutz, Fallschutz, Sekuranten, die Fassadeneinhängung oder Gebäudetechnik wie Klimaanlage oder Lüfter integrieren und prägen das Gebäude zudem optisch. Die Wirtschaftlichkeit der Anlage ergibt sich entsprechend aus dem Energieaspekt, aber auch aus den Funktionen des Gebäudes, die mitübernommen werden.
Noch sind die ersten Messungen aus Berlin-Spandau nicht belastbar. Mindestens ein Jahr wollen die Beteiligten abwarten, um genaue Aussagen zur Wind- und Sonnenausbeute treffen zu können. Und selbst dann müssten natürlich noch die Schwankungen zwischen den Jahren berücksichtigt werden, sagt Köhler. Gerne sehen würde er es, wenn sich Wind- und Photovoltaik-Ertrag die Waage halten. Dies sei jedoch in Berlin schwieriger zu erreichen als an der Nordseeküste. Bisherige Tests hätten zumindest die Faustformel 70 Prozent Sonne/30 Prozent Wind bei einer Windstärke von drei Metern pro Sekunde (m/s), 60/40 bei einer Windstärke von vier m/s und 50/50 bei einer Windstärke von fünf m/s ergeben.
Über eine elektronische Messeinrichtung verfügt die Anlage von der Inbetriebnahme an und das müsse wegen der Netzkonformität auch so sein, erläutert Alexander Schitkowsky von den Berliner Stadtwerken. Hintergrund ist, dass die Photovoltaikmodule Wechselstrom und die Kleinwindanlage Drehstrom erzeugen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz kenne aber keine Hybriden, weshalb die Anlage gleich zweimal beim Netzbetreiber angemeldet werden muss. „Die Messeinrichtung misst hierfür ganz genau, woher der Strom kommt“, sagt Schitkowsky. Den Stadtwerken gehe es bei dem Projekt vor allem darum, Erfahrungen zu sammeln. Denn, so Schitkowsky: „In Berlin gibt es über 200 Häuser, die höher als 50 Meter sind. Es gibt also durchaus Potenzial.“
Und das nicht nur in Berlin. Entsprechend hat auch Anerdgy-Unternehmer Sven Köhler seine Ziele für 2017 klar definiert. Es sollen zwei weitere Anlagen gebaut werden, außerdem will Köhler die Technologie weiter verfeinern. 2018 plant er dann schon bedeutend mehr Projekte umzusetzen, 60 bis 70 konkrete Anfragen hat er bereits. Für Köhler besonders spannend sind Sanierungen und Neubauten, die Vorlaufzeiten liegen hier zwischen einem und drei Jahren. Deshalb sei er auch schon mit vielen Interessenten im Gespräch. Außerdem plant der Entwickler bereits sieben bis acht weitere Produkte. Demnächst will er etwa ein neues Windrail für Spitzdächer auf den Markt bringen.
Melanie Schulz

http://www.gewobag.de
http://www.anerdgy.com
http://www.berlinerstadtwerke.de
http://www.berlin.de
Dieser Beitrag ist in der März/April-Ausgabe von stadt+werk erschienen. Hier können Sie ein Exemplar bestellen oder die Zeitschrift abonnieren. (Deep Link)

Stichwörter: Windenergie, Berlin, Windrails

Bildquelle: Berliner Stadtwerke | Katja Lohse

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