Donnerstag, 21. November 2024

StrommarktdesignVergütung von Leistung und Arbeit

[29.05.2017] Die Bundesregierung hat sich für die Weiterentwicklung des Energy-only-Marktes entschieden. Der Strommarkt 2.0 löst jedoch nicht das Problem, wie das Energiesystem der Zukunft finanziert werden kann. Ein Vorschlag für ein marktorientiertes Strommarktdesign.
Erneuerbare Energien senken den Börsenstrompreis.

Erneuerbare Energien senken den Börsenstrompreis.

(Bildquelle: Alberto Masnovo/Fotolia.com)

Das Energiesystem ändert sich. Der Ausbau der erneuerbaren Energien erfordert eine wesentlich höhere Flexibilität. In der Diskussion um das Strommarktdesign geht es um die Frage, wie über geeignete Preissignale anstelle staatlicher Lenkung die erforderlichen Flexibilitätsoptionen zur richtigen Zeit und am richtigen Ort geschaffen und refinanziert werden können, sei es in Form erneuerbarer und konventioneller Kapazität, durch Speicher oder durch Maßnahmen zur Flexibilisierung auf der Nachfrageseite, um die Ziele der Energiewende zu erreichen.
Dabei wurde in den vergangenen Jahren intensiv diskutiert, ob der Großhandelsmarkt ausreicht, die erforderlichen Flexibilitätsoptionen zu schaffen, oder ob es dafür spezieller Kapazitätsmechanismen bedarf. Dieser Beitrag analysiert, ob der Energy-only-Markt (EOM) als Grundlage für ein marktorientiertes Design geeignet ist. Dem werden verschiedene Vorschläge für Kapazitätsmechanismen gegenübergestellt. Abschließend wird ein Vorschlag unterbreitet, den Strommarkt der Zukunft über konsistente Preissignale auf Angebots- und Nachfrageseite zu steuern.
Der Großhandelsmarkt vergütet die Lieferung von Energie auf der Grundlage des Preises, der den Grenzkosten des Grenzanbieters am Strommarkt entspricht (Energy-only-Markt). Anbieter in der Grund- und Mittellast mit niedrigeren variablen Kosten gegenüber dem preissetzenden Kraftwerk erzielen eine zusätzliche Marge, mit der sie ihre Kapitalkosten teilweise oder ganz decken können, Anbieter mit höheren variablen Kosten (vielfach Gaskraftwerke) fallen aus dem Markt heraus. Im Energy-only-Markt wird die Vorhaltung und Bereitstellung von Kraftwerkskapazität nur implizit über die Rente aus der Differenz von Marktpreis und variablen Kosten vergütet. Dies ist bei den erneuerbaren Energien durch die garantierte Einspeisevergütung bewusst anders gestaltet, um zu gewährleisten, dass die Vollkosten ohne Investorenrisiken in Bezug auf die Marktpreise gedeckt werden.
In Deutschland besteht nach herrschender Meinung derzeit kein generelles Kapazitätsproblem, da hinreichende Erzeugungskapazität technisch verfügbar ist und auf Stromimporte aus den Nachbarländern zurückgegriffen werden kann. Allerdings ist die Rentabilität konventioneller Energieerzeugung aufgrund gesunkener Großhandelspreise (30 Euro pro Megawattstunde im Jahr 2016 gegenüber 70 Euro im Jahr 2008) deutlich eingeschränkt. Die Zahl der Stilllegungsanzeigen für Kraftwerke bei der Bundesnetzagentur ist deshalb gestiegen. Hinzu kommt der sukzessive Ausstieg aus der Kernenergie bis 2022. Insofern ist die Kapazitätslücke ein realistisches Szenario in den nächsten fünf Jahren, ganz abgesehen von regionalen Engpässen, die bereits heute infolge des unzureichenden Ausbaus der Übertragungsnetze auftreten.

Zusatzmargen verdienen

Damit Energieerzeuger auf dem Energy-only-Markt die Kapitalkosten für bereitgestellte Kapazität vergütet bekommen, müssen sie in der Lage sein, über ihre jeweiligen Grenzkosten für die gelieferte Energie hinaus, dauerhaft Zusatzmargen zu verdienen. Allerdings ist es fraglich, ob knappheitsbedingte Preisspitzen ausreichen, hinreichende Anreize für Neuinvestitionen zu liefern.
Zum einen bewirkt der Ausbau der erneuerbaren Energien eine nachhaltige Minderung des Preisniveaus am EOM, da deren variable Kosten betragen, sodass der durchschnittliche Großhandelspreis und die erzielbare Marge immer weiter sinken. In der Folge kommen viele konventionelle Kraftwerke nicht mehr mit genügend Volllaststunden ans Netz. Diese strukturelle Tendenz zur Absenkung des Preisniveaus trifft vor allem den Terminmarkt, über den etwa zwei Drittel des Stroms zwischen ein und drei Jahren vorab verkauft werden. Kurzfristige, knappheitsbedingte Preisspitzen können nur auf dem deutlich kleineren Day-Ahead- und Intraday-Markt in vollem Maße abgebildet werden.
Zum anderen kommt am EOM die Zahlungsbereitschaft der Stromkunden nicht zum Ausdruck. Anbieter und Nachfrager erhalten ganz unterschiedliche Preissignale: Ein typischer Kleinkunde sieht aufgrund der Belastung mit Steuern und Umlagen einen viel höheren und auch nicht den realen stündlichen Preis. Der hohe Endkundenpreis belegt die Zahlungsbereitschaft der Stromabnehmer, die Stromerzeuger sehen aber nur den erheblich niedrigeren Großhandelspreis und können nicht auf die eigentliche Zahlungsbereitschaft der Stromverbraucher reagieren. In der Konsequenz besteht die Gefahr, dass über den EOM die Anreize für Neuinvestitionen gering ausfallen und Investoren sich zurückhalten: das Missing-Money-Problem.

Arten von Kapazitätsmechanismen

Dem soll ein Kapazitätsmechanismus entgegenwirken. Bei der Ausgestaltung stellen sich verschiedene Fragen, einerseits zum Anwendungsbereich: Umfasst der Kapazitätsmarkt nur Kraftwerke oder auch Speicher und Maßnahmen des Demand Side Management? Werden alle bestehenden und neuen Kapazitäten einbezogen (umfassender Kapazitätsmarkt) oder wird die Auswahl nach
gewissen Kriterien beschränkt (etwa nur Neubauten, möglichst geringe CO2-Belastung, Geografie)?
Des weiteren ist festzulegen, ob ein Regulator Mengen- und Preisvorgaben macht oder ob der Kapazitätsmarkt wettbewerblich ausgestaltet wird. Hier geht es auch um die Wirtschaftlichkeit: Werden wirklich die richtigen Anreize gesetzt oder nur Mitnahmeeffekte erzeugt? Im Falle festgelegter Kapazitätszahlungen bestimmt ein Regulator die erforderliche Menge an Kapazität und entwickelt die Entgeltstruktur, um die Refinanzierung sicherzustellen. In der Folge können Kapazitätsentgelte überhöht oder Anreize zu gering sein, wenn die Refinanzierungskosten für die Investoren nicht attraktiv genug sind. Demgegenüber nutzen wettbewerbliche Kapazitätsmechanismen die Informationsbasis der Marktakteure, indem sie die erforderliche Kapazität und/oder die Entgelte marktbestimmt ermitteln, etwa durch Auktionen.
Ein in Deutschland intensiv diskutiertes Modell ist der Vorschlag des dezentralen Leistungsmarkts. Das Modell setzt den Bedarf der Stromkunden nach Versorgungssicherheit in den Mittelpunkt. Nachfrage für ein Produkt „Gesicherte Leistung“ entsteht, wenn der EOM diesen Bedarf nicht in ausreichendem Maße bereitstellt. Der Vorschlag spaltet das Angebot des Stromversorgers in zwei getrennte Leistungen auf: die Lieferung elektrischer Arbeit und die Bereitstellung von gesicherter Leistung.
Demgemäß soll ein dezentraler Leistungsmarkt den Großhandelsmarkt ergänzen, auf dem der Kunde (oder die Vertriebe) zusätzlich zu der elektrischen Arbeit (kWh) so genannte Versorgungssicherheitsnachweise (kW) erwerben kann, die letztlich eine Versicherung gegen Systemknappheit darstellen, und zwar bis zu der abgesicherten Leistung. Der Emittent des Versorgungssicherheitsnachweises muss bei Systemknappheit lieferfähig sein, sich also mit ausreichender Leistung eindecken und in Versorgungssicherheit investieren, um Strafzahlungen zu vermeiden. Die insgesamt notwendige Kapazität wird in diesem Modell letztlich dezentral bestimmt, nicht durch einen Regulator. Der Höhe der Strafzahlung kommt hierbei zentrale Bedeutung zu.

Strommarkt 2.0

Die Bundesregierung hat sich im Strommarktgesetz 2016 für die Weiterentwicklung des EOM zum Strommarkt 2.0 entschieden. Die Begründung: Dieser ermögliche den Betreibern von Erzeugungsanlagen die Refinanzierung ihrer Kapazitäten und sei kostengünstiger, weil weniger subventionsanfällig, als ein Stromversorgungssystem mit zusätzlichem Kapazitätsmarkt. Es wird darauf verwiesen, dass ein funktionierender europäischer Strommarkt mit ausreichenden grenzüberschreitenden Übertragungskapazitäten langfristig einen Kapazitätsmechanismus überflüssig mache. Insgesamt sei ein derartiger Markteingriff nicht zu empfehlen, solange nicht sichtbar sei, dass der bestehende Markt mit weniger starken Eingriffen funktionstüchtig erhalten werden kann. Allerdings wird der Strommarkt 2.0 durch eine strategische Reserve abgesichert.

Fokus auf Angebotsseite

Die Diskussion um EOM und Kapazitätsmarkt fokussiert auf die Angebotsseite am Strommarkt und hier auch nur auf einen Teil. Anreize für Neuinvestitionen in erneuerbare Energien werden auch nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz 2017 den Preissignalen am Strommarkt entzogen, denn trotz der Marktprämie und Ausschreibungen ist die Vergütung letztlich fixiert. Da die Zahl dieser Anlagen entlang des Ausbaupfades steigt, wachsen die Kapitalintensität des Stromsektors und die Kapitalkosten je erzeugter Einheit Strom, gleichzeitig sinkt – wie oben dargestellt – das Marktpreisniveau am EOM strukturell. Wie soll ein solches Preissystem das Energiesystem der Zukunft (re)finanzieren, ganz unabhängig davon, ob es um den Neubau von erneuerbaren Erzeugungsanlagen (nach Ende des Subventionssystems) oder das erforderliche konventionelle Back-up geht?
Die Entscheidung über die Erzeugung einer zusätzlichen Arbeitseinheit (kWh) Strom ist betriebswirtschaftlich zu trennen von der Entscheidung, eine zusätzliche Leistungseinheit (kW) an konventioneller Erzeugungskapazität (oder Flexibilität) zu errichten. Aufgrund der zuvor beschriebenen Schere zwischen Preis- und Kapitalkosten müssen sich für beide Entscheidungen verschiedene Preissignale entwickeln. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass
• die Preisstruktur für die Kunden die Kostenstruktur für die Erzeuger widerspiegelt, sodass Stromerzeuger, Netzbetreiber und Kunden konsistente Preissignale und damit die gleichen Investitionsanreize bekommen. Ein Energiesystem, das zunehmend Flexibilität in der Vordergrund stellt, muss neben der Angebots- auch die Nachfrageseite auf gleicher Basis einbeziehen;
• Investitionen zum Zuge kommen, die aus Systemsicht hinsichtlich der Technologie und des Standorts – ob erneuerbar oder gesichert – am besten geeignet sind, nachfrageseitige Investitionen in Flexibilität sind hierbei von gleicher Relevanz;
• eine faire Verteilung der Kosten und Risiken zwischen Strombetreibern und Kunden entsteht. Dies bedeutet, über die Allokation der zahlreichen Sonderregelungen, Abgaben und Umlagen, die die Preissignale verzerren, neu nachzudenken.

Vorbild dezentraler Leistungsmarkt

Ein auf diesen Grundsätzen aufbauendes Preissystem umfasst für Investoren wie Kunden zwei Preiselemente:
Preis für Erzeugungseinheiten: Ausgangspunkt ist, dass die Regierung oder ein Regulator festlegt, wie viel an erneuerbarer Leistung jährlich benötigt wird und hierfür Ausschreibungsprozesse organisiert. Auf dieser Grundlage wird ebenfalls über Ausschreibungen ermittelt, wie viel gesicherte Leistung zusätzlich erforderlich ist, wobei Speicherkapazitäten und auch Maßnahmen der Nachfrageflexibilität berücksichtigt werden. Das Modell des dezentralen Leistungsmarkts bietet hier eine gute Orientierung. Erforderliche Netzinvestitionen können einbezogen werden. Die Summe aller dieser Investitionen (bei im bisherigen Modell finanzierten erneuerbaren Energien: die Differenzkosten; nach Auslauf des Modells: deren Gesamtkosten) bildet einen Topf, der insgesamt der Vergütung entspricht, die Investoren in erneuerbare wie in gesicherte Leistung oder Netze für die Kapitalkosten der errichteten und bereitgestellten Infrastruktur erhalten (Euro pro MW im Jahr). Dies weicht von der heutigen Regelung bei den erneuerbaren Energien ab, die bislang für die erzeugte Einheit Energie (Euro pro MWh) vergütet werden.
Auf der Kundenseite spiegelt sich diese Leistungsvergütung für die Investoren in einem Leistungspreis wider. Dieser sollte heute in Abhängigkeit von der Netzanschlussleistung des Kunden festgelegt werden, sich mittelfristig aber an der von ihm nachgefragten Spitzenlast orientieren, was eine entsprechende Datenerfassung voraussetzt. Eine Gleichzeitigkeitskomponente setzt Anreize, das System nicht über seine Spitzenlast hinaus auszunutzen. Der Leistungspreis reflektiert den Anteil, den der Kunde an den auf Marktbasis ermittelten Kosten für gesicherte Leistung, an den Kosten der Netzkapazität, und an den Differenzkosten (zukünftig den ebenfalls auf Marktbasis ermittelten Kosten) für erneuerbare Energien trägt.
Preis für die Lieferung von Energie: Der Preis wird wie bisher am Großhandelsmarkt auf Basis der variablen Kosten der Energieerzeugung (einschließlich Netzverluste) ermittelt. Im Unterschied zum derzeitigen Strommarkt sollte dieser Preis weitgehend unverfälscht als Arbeitspreis beim Kunden ankommen. Dies bedingt einen Umbau des Systems an Steuern und Umlagen, das zurzeit den Strompreis für den Endkunden deutlich belastet. In Zukunft sollte der Kunde auf Grundlage intelligenter Messsysteme Preisschwankungen unmittelbar spüren – es sei denn, ein Dienstleister oder ein intelligentes Gerät glätten diese Schwankungen für den Kunden gegen Entgelt.

Zweistufiges Preissystem

Ein solches zweistufiges Vergütungs- und Preissystem ermöglicht den Wettbewerb um die Errichtung von Kapazität wie Nachfrageflexibilität zu den günstigsten Gestehungskosten und schafft Anreize, Anlagen dort zu errichten, wo sie aufgrund der Erzeugungsbedingungen oder des vorhandenen Bedarfs die besten Laufzeiten und Margen erzielen. Investoren hätten den Anreiz, die Art von Erzeugung und den Standort so auszuwählen, dass sie über die Teilnahme an dem mengenbasierten Energiemarkt (MWh) Zusatzerlöse realisieren. Die Erwartungen auf Zusatzerlöse mindern den Leistungspreis, da die Investoren sie im Rahmen der Kapazitätsausschreibungen antizipieren und bei ihren Geboten berücksichtigen werden. Die Kunden erhalten über den Leistungspreis Anreize, ihre Netzanschlussleistung mittel- bis langfristig durch Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz und ihrer Flexibilität zu reduzieren. Der fluktuierende Arbeitspreis regt dazu an, den Stromverbrauch kurzfristig in Zeiten zu verlagern, in denen das Stromnetz weniger stark ausgelastet ist.

Schlussfolgerungen

Das Strommarktdesign der Zukunft hat mit dem Strommarktgesetz eine vorläufige Ausgestaltung gefunden, allerdings ist die Frage noch nicht beantwortet, wie ein System, das immer stärker auf -Grenzkosten zuläuft, über einen Markt finanziert werden kann, der auf Grenzkosten beruht. Dies gilt vor allem, wenn auf Dauer auch die (Re-)Finanzierung erneuerbarer Energien über den Markt erfolgen soll und darüber hinaus Investitionen in Speicher und Nachfrageflexibilität. Weiterhin ist zu fragen, wie über den Preismechanismus Anreize für Energieeffizienz gesetzt werden können und gleichzeitig die Sektorkopplung vorangetrieben wird.
Der hier vorgestellte Vorschlag sieht die Lösung in einem zweigeteilten Preissystem, das Investitionen in Leistung, Speicher oder Nachfrageflexibilität über ein Leistungspreiselement und die Lieferung von Energie über ein Arbeitspreiselement vergütet. Bei strukturell durch den wachsenden Anteil erneuerbarer Energien sinkenden variablen Erzeugungskosten und damit sinkenden Arbeitspreisen wird es so zunehmend attraktiv, Strom in anderen Sektoren, etwa im Bereich der Wärme und des Verkehrs, zu nutzen und bisherige Energieträger (Öl, Gas) zu ersetzen.

Prof. Dr. Norbert Schwieters

Schwieters, NorbertNorbert Schwieters verantwortet bei PwC seit 2011 deutschlandweit den Bereich Energiewirtschaft und seit 2013 auf globaler Ebene den Bereich Energy, Utilities and Mining. Er vertritt PwC beim Weltenergierat und bei der Bundesfachkommission des Wirtschaftsrates. Seit 2017 ist er Honorarprofessor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.

Stichwörter: Politik, Strommarktdesign


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