ErdgasUngenutztes Potenzial
Über 100 Milliarden Kubikmeter Gas strömen pro Jahr durch das rund 120.000 Kilometer lange Erdgas-Hochdrucknetz Deutschlands. Diese Mengen bergen rund 1.000 Terawattstunden brennbare fossile Energie. Wer aber denkt, dass das schon alles ist, der irrt. Neben der chemischen Energie hat das unter hohem Druck stehende Gas weitere mechanische Energie, die so genannte Druck- oder Kompressionsenergie, gespeichert. Ein Energiepotenzial, das vorhanden ist, das aber kaum genutzt wird. Experten des Unternehmens Fima Maschinenbau aus Obersontheim (Baden-Württemberg) schätzen diese ungenutzte oder gar vernichtete Energie allein in Deutschland auf circa drei Terawattstunden pro Jahr. Doch wie gelangt diese Druckenergie in das Gas? Das in Deutschland benötigte Erdgas hat in der Regel einen weiten Weg zurückgelegt. Es stammt zum Großteil aus entfernten Fördergebieten in den Niederlanden, Norwegen und Russland. Damit möglichst viel Energie in den rund eineinhalb Meter dicken Pipelines transportiert werden kann, wird das Gasvolumen in vor- und zwischengeschalteten Verdichterstationen reduziert. Hierbei erwärmt sich das Erdgas unvermeidlich. Die Wärme muss entsprechend abgeführt werden, da heißes Gas wiederum eine niedrigere Dichte besäße. Die für die Volumenreduzierung aufgewendete Energie bleibt im Gas als so genannte Kompressionsenergie erhalten. Mit einem Druck von 20 bis 60 bar wird das Erdgas schließlich in das flächendeckende Hochdrucknetz Deutschlands eingespeist. An den tausendfach über das Land verteilten Übergabestellen zum Verteilnetz der lokalen Versorger muss der Druck wieder auf circa drei bis acht bar abgesenkt werden. Dies geschieht normalerweise durch Drosselventile. Damit das Gas bei der Expansion nicht gefriert, muss dem System jetzt Wärme zugeführt werden. Die im Erdgas gespeicherte Kompressionsenergie geht meist ungenutzt verloren. Das soll sich künftig ändern. Die Stadtwerke Schwäbisch Hall und Fima Maschinenbau haben sich unlängst dazu entschlossen, dieses Energiepotenzial zu heben und im Rahmen einer Kooperation eine Erdgasentspannungsturbine für die Gasübergabestation Hessental entwickelt. Die Turbine entspannt das Erdgas alternativ zum Drosselventil. Entzieht man dem Gas außerdem die gespeicherte Kompressionsenergie zur Stromerzeugung, kühlt dieses weiter ab, folglich muss zusätzliche Wärme aufgewendet werden.
Hoher Wirkungsgrad
Die Stadtwerke Schwäbisch Hall haben dazu ihr mit Biogas betriebenes Blockheizkraftwerk (BHKW) in der Gasübergabestation aufgerüstet. Während die Stromerzeugung weiterhin einen Wirkungsgrad von 35 Prozent erreicht, wurde der thermische Wirkungsgrad unter anderem durch die Kombination mit einem Nutzwärmespeicher von 40 Prozent auf 55 Prozent erhöht. Da für jede Kilowattstunde Strom, den die Turbine erzeugen soll, eine Kilowattstunde Wärme aufgewendet werden muss, erreicht die komplette Anlage einen Gesamtwirkungsgrad der Stromerzeugung von bis zu 90 Prozent – bestehend aus 35 Prozent BHKW-Strom und 55 Prozent Turbinenstrom. Was die Entspannungsturbine außerdem attraktiv macht, ist, dass sie innerhalb von 20 Sekunden ab- und zugeschaltet werden kann. Bei Abschaltung springen einfach die alten Drosselventile ein. Damit ist die Anlage in der Lage, an den Regelleistungsmärkten teilzunehmen. In einem weiteren Schritt soll der Nutzwärmespeicher durch einen großen elektrisch beheizbaren Heißwasserspeicher ersetzt werden. Nach dem Power-to-Heat-Prinzip wird es dann möglich sein, kurzfristige Stromüberschüsse beispielsweise aus gekoppelten Photovoltaik- und Windkraftanlagen als heißes Wasser zu speichern.
Breiter Regelbereich
Gebhard Gentner, Geschäftsführer der Stadtwerke Schwäbisch Hall, erklärt gegenüber stadt+werk: „Wir sind davon überzeugt, dass sich solche Energieeffizienztechniken durchsetzen werden. Bei den Überlegungen für die Anlage hat uns vor allem die Turbinentechnik fasziniert.“ Dabei ist die Technik prinzipiell nicht neu. In den vergangenen Jahren haben bereits einige Energieversorger Pilotprojekte mit Gasentspannungsturbinen oder Gasexpansionsmotoren auf den Weg gebracht. Die Innovation des Gemeinschaftsprojekts besteht vielmehr in der Realisierung einer Turbine für kleine Fördermengen zwischen 2.000 und 5.000 Normkubikmetern. Eine Großzahl der Übergabestationen weist nur solche geringen Durchflussmengen auf. Um die darin gespeicherte Energie in Strom umzuwandeln, braucht es kleine Turbinenlaufräder mit hohen Umlaufgeschwindigkeiten von 45.000 Umdrehungen pro Minute. Außerdem deckt die Turbine nach Angaben von Joachim Schmid, Abteilungsleiter Forschung und Entwicklung bei Fima, einen sehr breiten Regelbereich bezüglich der Druckverhältnisse und Volumenströme ab und kann sowohl das hohe Winter- als auch das niedrige Sommerdargebot vollumfänglich abarbeiten. Insgesamt 50 bis 180 Kilowatt (kW) Strom könne die FIMA-Erdgasentspannungsturbine GET 200 mit einer Leistung von 200 kW dabei erzeugen.
Förderung auf dem Weg
Seit Sommer 2015 läuft die Stromerzeugungsanlage in Schwäbisch Hall-Hessental im Probebetrieb, im Januar 2016 startet sie regulär durch. Mehr als drei Jahre sind von der ersten Idee über die Planung, Entwicklung und den Bau bis hin zur Inbetriebnahme der Turbine
verstrichen. Eine Zeit, in der viel passiert ist: Fima ist für ihre Entwicklung für den Umwelttechnikpreis des Landesministeriums für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg in der Kategorie Energieeffizienz nominiert worden, während die Einkaufspreise an der Strombörse deutlich gesunken sind. Keine erfreuliche Entwicklung für die Konstrukteure, die ihre Erdgasentspannungsturbine schon bald in zwei Größen vermarkten wollen. Zwar kann für den BHKW-Strom je nach eingesetztem Brennstoff eine Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG)- oder Kraft-Wärme-Kopplungs (KWK)-Förderung beantragt werden, der aus dem Gas gewonnene Strom gilt jedoch weiterhin als Graustrom. Grund genug für das Unternehmen, sich im Sommer 2015 in einem Schreiben direkt an den Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel (SPD), zu wenden und um Berücksichtigung dieser Effizienztechnologie bei der Novelle des KWK-Gesetzes zu bitten. Zuletzt hatte sich der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) im Jahr 1999 für eine Aufnahme von Erdgasentspannungsturbinen in das KWK-Gesetz stark gemacht und war damit gescheitert. Auch diesmal äußerte sich das Bundeswirtschaftsministerium hinsichtlich einer direkten Förderung durch das KWKG zurückhaltend, betonte aber, dass anderweitige Förderungen der Technologie in Betracht kämen. So hat denn auch der Koalitionsausschuss am 1. Juli 2015 im Zuge der Verhandlungen zum KWK-Gesetz zusätzliche Maßnahmen im Bereich Energieeffizienz beschlossen. Insbesondere für die energetische Nutzung der Abwärmepotenziale in den Unternehmen sollen finanzielle Anreize geschaffen werden, heißt es in einer Zusammenfassung der Ergebnisse. Hierzu soll bereits 2016 ein neues Förderprogramm für alle Unternehmensgrößen entwickelt werden, das die bisherige Förderung der Querschnittstechnologien aufnimmt, um den Bereich Abwärme ergänzt und gegebenenfalls neue Technologien einbezieht. Erdgasentspannungsturbinen werden in Bezug auf das geplante Förderprogramm explizit genannt. In den Verhandlungsergebnissen zum KWKG von Anfang Dezember 2015 heißt es, dass ein solches Förderpaket bereits im ersten Quartal 2016 auf den Weg gebracht werden soll.
Vielfältige Einsatzfelder
Stadtwerke-Chef Gentner spricht deshalb von guten Vermarktungschancen. So eigne sich die neue Technologie vor allem für mittelgroße Industriebetriebe, die über einen eigenen Anschluss an das Erdgashochdrucknetz sowie über Abwärme aus der eigenen Produktion verfügten und gleichzeitig den Strom für den Eigenbedarf produzieren wollen. Auch für Energieversorger wie Stadtwerke, die ein eigenes Erdgasnetz betreiben und Strom verkaufen, könne die Stromerzeugung via Erdgasentspannungsturbine interessant sein. Eine künftige Förderung – gegebenenfalls flankiert durch entsprechende Effizienzmaßnahmen im Zuge der Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie – könne außerdem dazu beitragen, dass sich diese klimafreundliche Stromerzeugung künftig stärker durchsetzen werde. Auch aus dem KWK-Gesetz 2016 direkt ergebe sich noch etwas Gutes: Der KWK-Bonus hat sich um drei bis vier Cent erhöht, wodurch der BHKW-Strom jetzt besser vergütet werde. Letztendlich bedürfe die Prüfung der Wirtschaftlichkeit einer Anlage einer genauen Einzelfallbetrachtung, bei der viele Faktoren eine Rolle spielten.
http://www.fima.de
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