Donnerstag, 21. November 2024

StudieÜberspannung aushalten

[10.02.2021] Inwieweit Betriebsmittel für das Hoch- und Höchstspannungsnetz Spannungen oberhalb des normalen Bereichs bewältigen können, zeigt eine Studie des Forums Netztechnik/Netzbetrieb im VDE (VDE FNN). Netzbetreiber können daraus entsprechende Maßnahmen ableiten.
Häufige Überspannung beeinflusst die Lebensdauer von Betriebsmitteln.

Häufige Überspannung beeinflusst die Lebensdauer von Betriebsmitteln.

(Bildquelle: VDE/FNN)

In den europäischen Network Codes wird für die Hoch- und Höchstspannungsnetze in Zentraleuropa eine zeitlich begrenzte Überschreitung der höchsten Betriebsspannung Us von 420 Kilovolt (kV), 245 kV und 123 kV auf 440, 253 und 127 Kilovolt für mindestens 20 und maximal 60 Minuten (min) angegeben. In Deutschland wird der normale Spannungsbereich in der Regel eingehalten. Allerdings sind, abhängig vom jeweiligen Betriebsfall und von der Anordnung der Blindleistungskompensationseinrichtungen, an einigen Netzknoten zeitweilig Spannungen nicht auszuschließen, die höher sind als die maximal zulässige dauernde Spannung (Um) eines Betriebsmittels, welche meist durch Normen festgelegt wird. Eine Studie des Forums Netztechnik/Netzbetrieb im VDE (VDE FNN) zum Thema Spannungsfestigkeit untersucht deren Auswirkungen auf Betriebsmittel hinsichtlich Funktionseinschränkungen und Alterungsverhalten und leitet Handlungsempfehlungen für Netzbetreiber ab.

Betrieb uneingeschränkt aufrechterhalten

Die im Jahr 2016 in Kraft getretenen europäischen Verordnungen (EU) 2016/631 „Netzkodex mit Netzanschlussbestimmungen für Stromerzeuger“ und (EU) 2016/1366 „Netzkodex für den Lastanschluss“ legen Mindestzeiträume für die Spannung fest, in denen die Stromerzeugungs- und Verbrauchsanlagen sowie die Netze in der Lage sein müssen, den Betrieb uneingeschränkt aufrechtzuerhalten. Damit soll den sich ändernden Bedingungen und Anforderungen beim Betrieb der Netze in Kontinentaleuropa Rechnung getragen werden. Für die bisher eingesetzten Betriebsmittel, die in der Regel für ein Um von 123, 245 und 420 Kilovolt (das heißt: Um = Us) spezifiziert sind, ist zu prüfen, inwieweit ein Betrieb bei Spannungen U > Um möglich ist.
In der Studie wird zunächst der Betrieb mit Spannungen U > Um aus Sicht der technischen Vorschriften und Richtlinien betrachtet. Aus diesen kann abgeleitet werden, dass ein dauernder Betrieb eines Betriebsmittels oberhalb der Spannung Um nicht erlaubt ist. Ein Betrieb mit U > Um stellt einen Betrieb bei zeitweiliger Überspannung dar. Inwieweit das zulässig ist, muss im Rahmen der Isolationskoordination geklärt werden.

Analyse liegt bei Betreiber

Betriebsmittel für das Hoch- und Höchstspannungsnetz werden für eine Lebensdauer von 40 bis 50 Jahren ausgelegt. Die Auslegung erfolgt gemäß internationaler Normen (IEC), die eine Vielzahl betrieblicher Anforderungen, jedoch nicht 100 Prozent aller im Betrieb auftretenden Bedingungen abdecken. Andererseits werden bei den Typprüfungen Annahmen getroffen, die unter Netzbedingungen nur sehr selten oder gar nicht auftreten. Es ist Aufgabe des Betreibers, die Einsatzbedingungen und die Anforderungen zu analysieren und die entsprechende Bemessung zu spezifizieren.
Der prüftechnische Nachweis, dass das betreffende Betriebsmittel in der Lage ist, die betriebliche Dauerbeanspruchung über die angenommene Lebensdauer zu beherrschen, erfolgt durch eine Prüfung mit Langzeit-Stehwechselspannung, meist für eine Dauer von 30 bis 60 Minuten. Bei einigen Betriebsmitteln wird dieser Nachweis durch eine Prüfung mit Kurzzeit-Stehwechselspannung mit einer Dauer von meist einer Minute vorgenommen. Die ausreichende Festigkeit gegenüber zeitweiligen Überspannungen wird durch die Prüfung mit Kurzzeit- oder Langzeit-Stehwechselspannung nachgewiesen.

Zeitweilige Überspannungen

Im Folgenden wird insbesondere das Verhalten bei zeitweiligen Überspannungen betrachtet. Basierend auf Analysen der von Netzbetreibern bereitgestellten Daten und den nationalen und europäischen Network Codes wird angenommen, dass die betreffenden Betriebsmittel zweimal pro Woche für jeweils 30 Minuten mit einer zeitweiligen Überspannung von U = 1,05*Um beansprucht werden. Es wurde untersucht, ob durch diese Beanspruchungen eine Funktionseinschränkung der Betriebsmittel zu erwarten ist, und ob diese über die Betriebszeit akkumuliert zu einer merklichen Verkürzung der Lebensdauer führen. Die beiden Fragestellungen wurden für die verschiedenen Betriebsmittel – Freileitungen, Freiluftschaltanlagen, Schaltgeräte, gasisolierte Schaltanlagen, Strom- und Spannungswandler, Leistungstransformatoren, Überspannungsableiter sowie Kabelanlagen – auf Basis der einschlägigen Vorschriften und der Fachliteratur betrachtet.

Ergebnisse und Empfehlungen

Ein zeitweiliger Betrieb mit Spannungen von U = 1,05*Um stellt faktisch einen Betrieb bei zeitweiliger Überspannung dar. Dieser ist zulässig, muss aber in Dauer und Häufigkeit begrenzt werden. Funktionseinschränkungen sind in den meisten Fällen nicht zu erwarten, da unter realen Netzbedingungen die dann auftretenden Betriebsbedingungen durch die Annahmen in den betreffenden Normen größtenteils noch abgedeckt sind. Die angenommene Beanspruchung mit U = 1,05*Um zweimal pro Woche für jeweils 30 Minuten würde über eine Betriebszeit von 40 Jahren akkumuliert keine signifikante Lebensdauerverringerung verursachen. Auch unter Gesichtspunkten der Alterung der eingesetzten Isoliermedien ist mit keiner technisch relevanten Verkürzung der Lebensdauer zu rechnen. Eine deutlich größere Häufigkeit und/oder Beanspruchungsdauer hätte aber negative Auswirkungen auf die Lebensdauer der Betriebsmittel. Ein dauernder Betrieb mit U = 1,05* Um kann zum einen unter physikalischen Gesichtspunkten nicht zugelassen werden, zum anderen ist dies gemäß den einschlägigen Normen nicht zulässig.
Bei den im Folgenden aufgeführten Betriebsmitteln können bei Betrieb mit U = 1,05* Um unter den genannten besonderen Betriebsbedingungen gewisse Funktionseinschränkungen auftreten. In diesen Fällen werden die angegebenen Maßnahmen empfohlen.

Anhand der Netzbedingungen prüfen

Sind in Anlagen mit Kurzschlussströmen im Bereich des Bemessungs-Kurzschlussstroms der installierten Leistungsschalter erhöhte Betriebsspannungen nicht auszuschließen, sollte anhand der konkreten Netzbedingungen geprüft werden, ob Schaltfälle im Grenzleistungsbereich, insbesondere Klemmenkurzschlüsse, dann noch beherrscht werden. Gegebenenfalls müssen Leistungsschalter mit höherem Bemessungs-Kurzschlussstrom eingesetzt werden.
Beim Abschalten von transformatornahen Fehlern muss bei nicht geerdetem Transformator-Sternpunkt mit Einschwingbedingungen gerechnet werden, die nicht durch die Norm abgedeckt sind. In diesen Fällen sollte eine Analyse der Einschwingbedingungen unter Berücksichtigung der Eigenfrequenz des betreffenden Transformators durchgeführt und geklärt werden, ob der eingesetzte Leistungsschalter den Schaltfall beherrscht.
Werden leerlaufende, nicht kompensierte Leitungen bei einer Spannung U = 1,05*Um ausgeschaltet, sind Rückzündungen möglich. Diese können gegebenenfalls durch gesteuertes Schalten der Leistungsschalter vermieden werden. Beim Schalten von kleinen induktiven Strömen bei U = 1,05*Um können vermehrt Wiederzündungen auftreten. Diese lassen sich ebenfalls durch gesteuertes Schalten vermeiden.

Deutlich höhere Geräusche

Bei Transformatoren ist bei Betrieb mit U = 1,05*Um mit deutlich höheren Geräuschen zu rechnen. Eine Übererwärmung hingegen ist aufgrund der kurzen Dauer der erhöhten Spannung von nur 30 Minuten unwahrscheinlich. Ob eine im Kurzzeitbetrieb unzulässige Übererregung auftreten kann, ist gegebenenfalls zu klären.
Beim Betrieb von Drosselspulen mit U = 1,05*Um sind neben verstärkten Geräuschen auch höhere Kupfer- und Eisenverluste zu erwarten. Es ist zu überprüfen, ob diese zu einer unzulässig hohen Erwärmung im Kurzzeitbetrieb führen können.
Zur Vermeidung von stationären Kippschwingungen wird der Einsatz von induktiven Spannungswandlern mit Luftspalt-Kernen empfohlen. Ausreichendes Dämpfungsverhalten bei U = 1,05*Um sollte versuchstechnisch oder durch Simulation nachgewiesen werden.
Tritt im gelöscht betriebenen 110-Kilovolt-Netz ein Erdschluss bei U = 1,05*Um auf, ist nach Norm bei einer Fehlerdauer von 30 Minuten eine thermische Überbeanspruchung der Ableiter nicht gänzlich auszuschließen, wenngleich auch unwahrscheinlich. In solchen Fällen ist das thermische Verhalten der Ableiter anhand der Herstellerangaben genauer zu überprüfen.

Resümee

Betriebszustände mit Spannungen oberhalb von Um sind auf das für die Netzsicherheit notwendige Maß zu beschränken. Sie dürfen nicht zur Lastflusssteuerung oder zum Vermeiden von Überlastsituationen eingesetzt werden. Die Funktionsfähigkeit der Betriebsmittel bei U = 1,05*Um profitiert von den Sicherheitsmargen, die sich aus den in den Normen getroffenen Annahmen ergeben. Diese Sicherheitsmargen werden durch die erhöhte Spannung nun betrieblich genutzt und sind damit als Margen verbraucht. Es ist also kein Spielraum mehr für noch weiter erhöhte Betriebsspannungen vorhanden.
Die Ergebnisse und Erkenntnisse der Studie werden durch die Experten von VDE FNN in die Weiterentwicklung der Normen und der europäischen Netzcodes eingebracht.

Claus Neumann ist Professor an der Technischen Universität Darmstadt und Inhaber von CN Power Engineering Consult; Volker Hinrichsen ist Professor an der Technischen Universität Darmstadt und Inhaber des ibH Hochspannungstechnik – Ingenieurbüro.


Stichwörter: Netze | Smart Grid, Studie, VDE


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