Samstag, 23. November 2024

MobilitätMasterplan für die Verkehrswende

[11.02.2021] In zahlreichen Pilotprojekten wird an der Abkehr vom dominanten Individualverkehr hin zu einer Verkehrswende gearbeitet, die sozialverträglich und umweltfreundlich ist. Viele Ideen scheitern jedoch an der Umsetzung. Kommunalverwaltungen brauchen daher einen Masterplan.
Für die Verkehrswende brauchen die Kommunen einen Masterplan.

Für die Verkehrswende brauchen die Kommunen einen Masterplan.

(Bildquelle: j-mel/stock.adobe.com)

Wasserstoffbusse, elektrische Tretroller und Carsharing: Beim ersten Blick in viele Großstädte scheint die Verkehrswende an Fahrt aufzunehmen. In der Tat gibt es vielerorts Initiativen und zahlreiche Pilotprojekte, im Großen und Ganzen sind die einzelnen Bemühungen in Richtung einer klimagerechteren und nachhaltigen Mobilität aber immer noch lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Die Stadtwerke Münster sind beispielsweise mit einer Luftaufnahme des Münsteraner Prinzipalmarkts aus dem Jahr 1990 weltweit bekannt geworden. Die Fotocollage zeigt den jeweiligen Platzverbrauch von 72 Personen in Autos, in einem Bus und auf Fahrrädern. Ein weiteres Projekt mit dem Fokus Mobilität ist ein 100 Kilometer langer Radschnellweg im Ruhrgebiet, der das Pendeln mit dem Fahrrad attraktiver machen soll. Und wer Urlaub in Holland gemacht hat, dem ist das fietsnetwerk ein Begriff, auf dem Fahrradfahrer abseits voller Straßen auch größere Distanzen bequem zurücklegen können. Unter anderem in Hamburg und Stuttgart ist es möglich, über eine App bei einem Fahrgemeinschaftsservice eine Fahrt in einem Van zu buchen. Eine City-Maut, wie sie etwa die Millionenstadt London eingeführt hat, könnte Abhilfe bei verstopften Straßen schaffen.

Gesamtplan dringend nötig

Diese Beispiele zeigen: Inspiration und Ideen sind vorhanden, es gibt aber noch keinen Gesamtplan. Dabei ist dieser dringend nötig. Neben der großen Herausforderung, das Zwei-Grad-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens zu erreichen, kämpfen zahlreiche Großstädte mit starker Luftverschmutzung, sehr wenig Platz im öffentlichen Raum, einem schwelenden Konflikt zwischen passionierten Rad- und Autofahrern sowie häufig vermeidbaren Unfällen im Straßenverkehr. All das sollte Motivation genug sein, die Mobilitätswende aktiv anzugehen. Doch es passiert noch (zu) wenig.
Geldsorgen dürften die Kommunen derzeit nicht umtreiben. Im milliardenschweren Konjunkturpaket der Bundesregierung, das die coronabedingte Wirtschaftskrise abfedern soll, stehen dem Mobilitätssektor Kaufanreize für Elektroautos und Plug-in-Hybride, Investments in die Ladesäulen-Infrastruktur und finanzielle Unterstützung für den öffentlichen Nahverkehr zur Verfügung. Problematisch ist allerdings, dass die Ministerien für Finanzen, Wirtschaft und Umwelt sich zwar auf die Hilfen einigen und den Umfang des Pakets abstimmen, bislang allerdings keinen konkreten Plan zur Umsetzung der Mobilitätswende vorlegen konnten. Das zeigt sich insbesondere an der bislang geringen Inanspruchnahme bestehender Förderprogramme.

Kommunen unter Zugzwang

Unvermittelt sind damit die Kommunen ins Scheinwerferlicht gerückt. Denn sie haben es in der Hand, an den richtigen Stellschrauben zu drehen, um aus Pilotprojekten und den zur Verfügung gestellten Mitteln einen echten Schritt in Richtung Verkehrswende zu gehen. Sie können das Mobilitätsverhalten der Bürger direkt beeinflussen: Mit hohen Mautgebühren und teuren Tickets für Parkplätze in Innenstädten sollen mehr Menschen davon abgehalten werden, mit dem eigenen Auto in die Stadt zu fahren. Gibt es zusätzlich attraktive Angebote für den öffentlichen Personennahverkehr, fällt der Umstieg auf Bus und Bahn noch leichter. Auch das Zusammenspiel des Individualverkehrs im Auto mit dem Transport von Berufspendlern via Bus und Bahn sollte verfeinert werden. Park-and-Ride-Parkplätze außerhalb des Stadtzentrums legen es Berufstätigen nahe, die letzten Kilometer nicht mit dem eigenen Auto zurückzulegen.
Radikaler, mitunter aber auch zielführender, sind Verbote für Autos in bestimmten Bereichen der Stadt. Doch auch ohne Verbote oder strenge Vorschriften lässt sich die Mobilitätswende gestalten. Anreize schafft etwa ein Bonusprogramm für Bürger, die sich besonders umweltbewusst fortbewegen. Die gesammelten Bonuspunkte könnten über eine App in Besuche in städtischen Museen, im Zoo oder im Schwimmbad umgewandelt werden. Es ist auch denkbar, Markthändler oder Food-Truck-Besitzer beim Erwerb von Konzessionen einen Nachlass anzubieten, wenn sie elektrische Fahrzeuge einsetzen. Solche Anreize sind für Kommunen eine echte Option: Die Kosten sind minimal, das Risiko zu vernachlässigen.

Risiko eines Flickenteppichs

Allerdings bergen ein großes Engagement und die Unterstützung vieler verschiedener Initiativen für die Mobilitätswende das Risiko eines Flickenteppichs. Kommunen benötigen daher einen Masterplan inklusive eindeutiger Koordination. Die Bundesregierung hat jüngst eine Mobilitätsplattform als Lösung vorgeschlagen: Auf Basis von Daten aus dem Bahn- und Nahverkehr sowie von privaten Car-Sharing-Anbietern sollen Personen künftig ihr Fortbewegungsmittel auf eine effiziente und bequeme Art finden, buchen und bezahlen können.
Hilfreich ist es, verschiedene Befugnisse und Steuerungen in eigenen, separaten Ressorts zu bündeln. Im Zweifel lässt sich das Gesamtprogramm effizienter umsetzen, wenn klare Zuständigkeiten definiert sind. Wichtig ist allerdings die Nähe zum Stadtoberhaupt. Weil viele Verwaltungen nach wie vor mit sehr vielen verschiedenen Verantwortungsbereichen arbeiten, lässt sich ein Masterplan ansonsten nur schwer umsetzen.

Zuständigkeiten definieren

Ziel sollte letztlich ein Gesamtkonzept sein, das eine nachhaltige, bequeme und bezahlbare Mobilität bietet. Davon profitieren sollen Bürger und Pendler, aber auch Besucher und Gewerbetreibende – die Stadt muss die Balance zwischen öffentlichem Interesse und privatwirtschaftlicher Attraktivität halten. Scheuklappendenken ist dabei fehl am Platz. Nur im Dialog mit der Wirtschaft und den Bürgern lassen sich die Konzepte umsetzen – und nur dann werden sie auch auf breite Akzeptanz stoßen. Der Erfolg hängt aus Sicht der Kommunen davon ab, alle Akteure an einen Tisch zu bringen und einen Konsens zu schaffen. Dafür braucht es auch den politischen Willen für klare Entscheidungen.
Neben der politischen Planung und Umsetzung müssen Kommunen bei ihren Vorhaben rund um die Verkehrswende auch die Wissenschaft im Auge haben. Denn Maßnahmen hin zu einer klima- und umweltfreundlicheren Mobilität setzen die Energiebranche unter Druck. Norwegen etwa hat angekündigt, ab dem Jahr 2025 keine neuen Autos mit Verbrennermotoren mehr zuzulassen. Auch im US-Bundesstaat Kalifornien soll ab dem Jahr 2035 keine Zulassung von Verbrennern mehr möglich sein. In Deutschland würde das wohl dazu führen, dass der aktuell aus erneuerbaren Energien gewonnene Strom bei Weitem nicht ausreichen wird. Dann würden zwar weniger Verbrenner und mehr Autos mit Elektro-, Hybrid- oder Wasserstoffantrieb auf deutschen Straßen unterwegs sein – der Energiemix würde sich aber dennoch zu einem erheblichen Teil aus Energie aus fossilen Quellen wie Braunkohle oder Gas zusammensetzen. Das durch die grüneren Autos eingesparte CO2 stoßen folglich die Kraftwerke weiter aus.

Kooperation mit Herstellern

Damit der Wandel nachhaltig gelingt und Smart sowie Sharing Mobility nicht nur Schlagworte, sondern gelebte Realität werden, sollten die Kommunen auch die Autohersteller mit ins Boot holen. Denn auch sie kämpfen für grünere Autos – sei es aus wirtschaftlicher Überzeugung oder weil politische Richtlinien es so vorgeben.
Eine wichtige Option bietet die Brennstoffzelle. Die Technologie, bei der Wasserstoff über die Zelle zu Strom umgewandelt wird, um damit einen elektrischen Antrieb zu ermöglichen, ist bereits hinreichend erforscht und gilt als sehr zuverlässig. Die Herausforderung liegt somit weniger in der Technik, als vielmehr darin, eine grüne Versorgung mit Wasserstoff zu gewährleisten. Diese ist naturgemäß begrenzt, weswegen der grüne Wasserstoff zunächst wohl nur der produzierenden Industrie zur Verfügung stehen wird.
Für deutsche Autohersteller öffnet sich dabei allerdings eine Tür: Sie können ihr Geschäftsmodell erweitern, indem sie zum Hersteller und Anbieter von grünem Wasserstoff werden und ihren Kunden somit ausreichend Brennstoff zur Verfügung steht. Im umkämpften Wettbewerb um immer umweltfreundlichere Autos kann das zu einem entscheidenden Vorteil werden.

Mögliche Kooperationen prüfen

Für die Kommunen gilt es, mögliche Kooperationen mit den Autokonzernen zu prüfen und sie damit zu Mobilitätsdienstleistern zu machen. Taxi-ähnliche Angebote wie der Berlkönig in Berlin oder MOIA in Hamburg sind hier Vorreiter, funktionieren jedoch bisher noch nicht als wirkliche Entlastung des Individualverkehrs. Sinnvoll ist ein Vorgehen im Sinne der Plattformökonomie: Die Kommunen kooperieren mit den Herstellern von Fahrzeugen, indem diese für die Software, Abrechnung und Bonitätsprüfung verantwortlich sind. Das ist effizienter, als wenn die Stadtverwaltung diese Aufgaben übernehmen muss. Auch die aktuell zu beobachtende Renaissance des Individualverkehrs in Zeiten von COVID-19 wird diesen grundsätzlichen Trend nicht umkehren. Die Pandemie stellt allerdings eine weitere Komplexitätsebene insbesondere im Hinblick auf Hygienekonzepte dar, welche die Umsetzung nicht einfacher macht.

Den Moment nutzen

Für eine erfolgreiche Verkehrswende hin zu einer umweltfreundlicheren und gesamtverträglicheren Mobilität darf die Politik nicht in Legislaturperioden denken. Die Verkehrswende dauert länger als vier, fünf oder sechs Jahre. Projekte anzustoßen und ihre Fortführung an eine Wiederwahl zu knüpfen, mag unter Wahlkampf-Gesichtspunkten attraktiv klingen, ist aber mittel- und langfristig hinderlich für die Entwicklung der Mobilität in der Kommune. Diese wichtige Aufgabe muss entkoppelt vom politischen Alltag vorangetrieben werden.
Nichtsdestotrotz haben Politiker die Chance, ihre Stadt auch in kurzer Zeit attraktiver zu machen. Denn die Frage, wie mobil man in Zukunft sein wird, treibt die Menschen um. Die Anziehungskraft eines attraktiven Mobilitätsangebots wird immer stärker und entscheidet zunehmend über die Entwicklungsmöglichkeiten von Städten und ländlichen Gemeinden.
Weil das Bewusstsein der Bevölkerung für die gefährdete Umwelt, den Klimawandel und weitere Gefahren für die Gesellschaft steigt, waren die Rahmenbedingungen nie besser, um die Mobilität smart zu gestalten. Die öffentliche Hand ist jetzt in der Pflicht, dieses Momentum zu nutzen, um die Entwicklung in die richtige Richtung zu lenken, damit eine effiziente, sozial verträgliche und umweltfreundliche Mobilität kein reines Wunschdenken bleibt.

Constantin M. Gall

Gall, Constantin M.Constantin M. Gall ist Managing Partner und Leiter Mobility bei EY Deutschland, Schweiz, Österreich. In seiner Funktion berät er Automobilunternehmen und -zulieferer, damit diese für die bevorstehenden Herausforderungen der künftigen Mobilitätswende gewappnet sind.

Stichwörter: Elektromobilität, EY


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