Samstag, 22. Februar 2025

ForschungKempen wird zum Reallabor

[03.09.2019] Eine Blaupause für intelligente Wärmenetze soll im Rahmen des Forschungsprojekts BestHeatNet entstehen. Erprobt wird das Konzept in einem Neubau-Quartier in der Stadt Kempen.
Die im Bau befindliche Wärmezentrale für das Baugebiet „Auf dem Zanger“ in Kempen

Die im Bau befindliche Wärmezentrale für das Baugebiet „Auf dem Zanger“ in Kempen, kurz bevor der 50 Kubikmeter fassende Wärmespeicher durch das Dach ins Innere gehoben wurde.

(Bildquelle: Stadtwerke Kempen)

Die Wärmeversorgung der Zukunft wird sich ebenso wie die Stromversorgung durch einen steigenden Anteil regenerativer Energien auszeichnen. Aufgrund der Fluktuation erneuerbarer Energien wegen wechselnder Wetterverhältnisse ist eine hohe Flexibilität gefragt. Diese wird im Forschungsprojekt BestHeatNet erprobt, welches das Zentrum für Innovative Energiesysteme (ZIES) an der Hochschule Düsseldorf (HSD) gemeinsam mit den Stadtwerken Kempen gestartet hat. Die Wärmeversorgung für das bereits im Bau befindliche Quartier „Auf dem Zanger“ in der nordrhein-westfälischen Stadt Kempen mit rund 130 Wohneinheiten wird hierfür für fünf Jahre zum Reallabor.

Multivariantes System

Solarthermie, Power to Heat durch eine Elektrowärmepumpe mit Erdsonde und Elektroheizstab, eine Kraft-Wärme-Kopplungsanlage (KWK), ein Spitzenlastkessel sowie eine Photovoltaikanlage mit Batterie produzieren zukünftig die benötigte Wärme und den Strom aus unterschiedlichen Energiequellen. Der Anteil an erneuerbaren Energien aus lokaler Produktion soll rund 30 Prozent betragen und ließe sich durch den Bezug von Biogas und Ökostrom weiter steigern.
Der Vorteil des multivarianten Systems aus den Power-to-Heat-Geräten (Erdwärmepumpe und Heizstab), dem zentralen Wärmespeicher und dem KWK-Modul liegt in der Kopplung des Strom- und Wärmemarkts und der damit verbundenen zusätzlichen Flexibilitätsoption für den Strommarkt (Strom verbrauchen oder produzieren). Ein Zusammenspiel dieser Wärmeerzeuger befähigt das Nahwärmesystem, neben Umweltschonung und Wirtschaftlichkeit auch die Netzdienlichkeit in eine umfassende Betriebsoptimierung einzubeziehen. Das aus Erzeugern mit unterschiedlichen Energiequellen – Sonne, Graustrom, Ökostrom, selbst produzierter Strom, Erdgas und Biogas – bestehende Nahwärmesystem kann flexibel auf sich verändernde energiewirtschaftliche Rahmenbedingungen, wie beispielsweise Strommarktsituationen (hohe, niedrige, negative Strompreise), Netzbedingungen (hohe, niedrige Auslastung des Stromnetzes) und andere Faktoren (Sonneneinstrahlung, Außentemperaturen, Wärmebedarf der Kunden) reagieren.

Selbstlernende Steuerung

Neben einer direkten Einspeisung der Wärmeerzeuger in das Nahwärmenetz besteht auch die Möglichkeit eines multivarianten Energietransfers zwischen den Erzeugern. So hat die Wärmepumpe Zugriff auf den Solarwärmespeicher als Wärmequelle (Steigerung der solaren Gewinne), und es ist eine direkte Nutzung des in der KWK- oder Photovoltaikanlage produzierten Stroms zum Antrieb der Wärmepumpe oder des Heizstabs möglich.
Ein entsprechend komplexes Wärmeversorgungssystem benötigt zur Hebung der maximalen Kostenminderungs-, CO2-Minderungs- und Netzdienlichkeitspotenziale ein geeignetes Regel- und Steuerungssystem. Dieses soll so ausgestaltet werden, dass mittels Messwerten aus der Anlage und Kurzzeitprognosewerten für externe Größen wie Wetter, Strom- und Gaspreis sowie Wärmelast jederzeit die kosten- und/oder energieeffizienteste Betriebsstrategie gefahren wird. Dafür wird das Nahwärmesystem mit entsprechender Mess- und Steuerungstechnik ausgestattet, wodurch es flexibel auf unterschiedliche Markt-, Netz- und Bedarfsanforderungen reagieren kann.
Da die Randbedingungen während der Lebensdauer des Systems kontinuierlichen Änderungen ausgesetzt sind, soll die Regelung selbstlernend sein und gleichzeitig über ein Überwachungs- und Priorisierungssystem für den Betreiber verfügen. Selbstlernende Algorithmen analysieren beispielsweise, zu welchen Zeiten typischerweise an den einzelnen Tagen der Woche Wärme benötigt wird. Das System erkennt die Gewohnheiten und hebt bei Bedarf zum Beispiel die Netztemperaturen rechtzeitig an. Es greift auf Wetterprognosen zu und kann dadurch die solare Wärmeproduktion stundengenau vorhersagen. Es ermöglicht somit auch genaue Vorhersagen des Gas- und Stromverbrauchs für kurz- und mittelfristige Zeiträume und befähigt so den Betreiber, erfolgreich am Day-Ahead- oder sogar Intraday-Handel teilzunehmen.

Neuronale Netze im Vorteil

Selbstlernende Systeme können besonders gut durch nicht-parametrische Metamodelle wie künstliche neuronale Netze abgebildet werden. Diese weisen bei der Auswertung einen deutlichen Geschwindigkeitsvorteil gegenüber den sonst eingesetzten detaillierten Systemsimulationen oder anderen Lösungsansätzen auf.
Die Schnelligkeit künstlicher neuronaler Netze begünstigt auch den Einsatz von sonst rechenintensiven Optimierungsalgorithmen (Partikelschwarmoptimierung, genetische Optimierer) zur Ermittlung der optimalen Regelungs- und Einsatzparameter in Form von Paretofronten, ohne vorherige Gewichtung der oft divergierenden Bewertungskriterien für Energieeffizienz, Kosten und Systemdienlichkeit. Diese Paretofronten beinhalten das ganze Spektrum vom energieeffizientesten bis hin zum wirtschaftlichsten Betrieb der Anlage. Der Betreiber kann fortlaufend entscheiden – je nach aktueller Priorisierung von Ökologie und Ökonomie.

Haus- und Wohnungsstationen anpassen

Zur weiteren Effizienzsteigerung des Wärmenetzes und zur Umsetzung eines Niedertemperaturnetzes mit möglichst geringen Vor- und Rücklauftemperaturen und somit Wärmeverlusten bedarf es verbraucherseitig angepasster Haus- oder Wohnungsstationen. Dabei gilt es, vor allem die Trinkwarmwasserbereitung und -zirkulation in den Blick zu nehmen, da bei gut wärmegeschützten Neubauten heizseitig witterungsabhängig nur geringe Temperaturen benötigt werden. Neben den klassischen gebäudeweisen Stationen mit Warmwasserzirkulation sollen deshalb in den Mehrfamilienhäusern wohnungsweise Stationen ohne Zirkulation, ohne Zirkulation und mit elektrischer Nachheizung sowie ein innovatives Konzept einer zentralen, gebäudeweisen Übergabestation mit Speicher und Warmwasserzirkulation untersucht und verglichen werden.
Das intelligente Nahwärmenetz „Auf dem Zanger“ dient als Blaupause für zukünftige Wärmenetze in Kempen. Aktuell finden die Erschließung des Baugebiets und der Bau der Heizzentrale statt. Die Planungen sehen einen Abschluss der Bauarbeiten an der Heizzentrale bis Ende dieses Jahres und erste Wärmelieferungen an Kunden Anfang/Mitte 2020 vor.

Prof. Dr. Mario Adam / Jonas Gottschald

Prof. Dr. Mario Adam, Jonas GottschaldDr. Mario Adam ist seit dem Jahr 1998 Professor an der Hochschule Düsseldorf und Leiter der Arbeitsgruppe E² – Erneuerbare Energien und Energieeffizienz. Adam ist Mitgründer des interdisziplinären In-LUST Instituts für lebenswerte und umweltgerechte Stadtentwicklung und leitet seit 2017 das ZIES – Zentrum für Innovative Energiesysteme. Jonas Gottschald war von 2011 bis 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe E², seit 2017 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZIES.

Stichwörter: Wärmeversorgung, Forschung


Weitere Meldungen und Beiträge aus dem Bereich: Wärmeversorgung
Das Bild zeigt eine Karte der Stadt Kassel mit Informationen zur Wärmeversorgung.

Kassel: Kommunale Wärmeplanung gestartet

[19.02.2025] Die Stadt Kassel plant die Zukunft der Wärmeversorgung. Ziel ist es, fossile Brennstoffe durch erneuerbare Energien zu ersetzen und eine sichere, unabhängige und nachhaltige Wärmeversorgung zu gewährleisten. Grundlage dafür ist die kommunale Wärmeplanung. mehr...

Difu-Dialog: Diskussion über Potenziale für die Wärmewende

[19.02.2025] Das Difu lädt am 12. März 2025 zu einem Online-Dialog über die Nutzung von Abwasser als Wärmequelle ein. Experten diskutieren, wie diese Technologie zur Wärmewende und Dekarbonisierung des Gebäudesektors beitragen kann. mehr...

Münster: Plan für klimaneutrale Wärmeversorgung

[18.02.2025] In Münster soll mit der kommunalen Wärmeplanung eine nachhaltige und bezahlbare Wärmeversorgung für die Zukunft geschaffen werden. Erste Ergebnisse werden im Sommer 2025 erwartet, während Bürgerinnen und Bürger aktiv in den Prozess eingebunden werden sollen. mehr...

Jörg Höhler, Vorstandsmitglied ESWE Versorgungs AG; Bürgermeister Joachim Reimann; Ralf Schodlok, Vorstandsvorsitzender ESWE Versorgungs AG, bei der Unterzeichnung des Kooperationsvertrags

ESWE: Wärmeplanung für Taunusstein

[14.02.2025] Taunusstein hat ESWE mit der Erstellung einer kommunalen Wärmeplanung beauftragt. Die Wärmeversorgung der hessischen Stadt soll klimafreundlicher, energieeffizienter und bezahlbar gestaltet werden. mehr...

Norderstedt: Umsetzung der kommunalen Wärmeplanung gestartet

[13.02.2025] Die Stadt Norderstedt und die Stadtwerke Norderstedt gehen von der Planungs- in die Umsetzungsphase der kommunalen Wärmeplanung über. Ein Transformationsplan sieht den Ausbau des bestehenden Fernwärmenetzes sowie alternative dezentrale Lösungen vor. mehr...

GeoCollect: Erdkollektoranlagen für die Wärmeversorgung

[12.02.2025] Im Zuge der kommunalen Wärmeplanung rückt das Unternehmen GeoCollect mit seinen großen Erdkollektoranlagen als Option für eine fossilfreie Wärmeversorgung in den Fokus. Die Technologie ermöglicht eine effiziente und kostengünstige Versorgung von öffentlichen Gebäuden und Wohnquartieren mit Umweltwärme. mehr...

Lübeck: Kommunaler Wärmeplan liegt vor

[06.02.2025] Die Hansestadt Lübeck hat jetzt ihren kommunalen Wärmeplan vorgestellt. Das Fachgutachten zeigt auf, wie die Stadt bis 2040 treibhausgasneutral mit Wärme versorgt werden kann. mehr...

SachsenEnergie: Wärmeplan für Kodersdorf

[30.01.2025] SachsenEnergie hat einen Fahrplan für die kommunalen Wärmeplanung in Kodersdorf in neun Monaten fertiggestellt. mehr...

Weimar: Kommunale Wärmeplanung gestartet

[30.01.2025] Die Stadt Weimar hat mit der Erstellung einer kommunalen Wärmeplanung begonnen. Ein Auftakttreffen mit allen Projektpartnern markierte den offiziellen Startschuss für den Planungsprozess. mehr...

RheinEnergie: Kalte Nahwärme für Rondorf

[29.01.2025] RheinEnergie setzt ein innovatives Wärmekonzept für ein Kölner Quartier um. In Rondorf Nord-West wird in Zukunft kalte Nahwärme genutzt. mehr...

Leverkusen: Stadt startet Wärmeplanung

[28.01.2025] Die Stadt Leverkusen hat den Auftrag zur Erstellung einer kommunalen Wärmeplanung vergeben. Mit Unterstützung von Expertenteams wird nun eine Strategie entwickelt, um erneuerbare Energien und Abwärme stärker in die lokale Wärmeversorgung zu integrieren und CO2-Emissionen zu reduzieren. mehr...

Sachsen: Modellvorhaben für Wärmeplanung

[28.01.2025] Die Städte Pirna und Radeberg haben sich erfolgreich für das Modellvorhaben zur kommunalen Wärmeplanung in Sachsen qualifiziert. Ihre Projekte sollen als Vorreiterlösungen dienen und anderen Kommunen im Freistaat Orientierung bieten. mehr...

BWP: Deutlicher Rückgang im Wärmepumpenmarkt

[23.01.2025] Der Wärmepumpenmarkt hat im Jahr 2024 einen deutlichen Rückgang erlebt, doch das Interesse an Förderprogrammen steigt. Branchenvertreter fordern politische Kontinuität, um die Wärmewende voranzutreiben und die Marktbedingungen für erneuerbare Heizsysteme zu stabilisieren. mehr...

Gotha: Großwärmepumpe für Fernwärmenetz angeliefert

[21.01.2025] In Gotha wurde jetzt eine Großwärmepumpe und damit das Herzstück der neuen Kraft-Wärme-Kopplungsanlage (iKWK) im Stadtteil Siebleben geliefert. Mit dem Start des Testbetriebs ab Mai sollen künftig rund 400 Wohneinheiten umweltfreundlich versorgt werden. mehr...

Leipzig: Fahrplan für Wärmeversorgung vorgestellt

[20.01.2025] Die Stadt Leipzig hat erstmals Eckpunkte für eine langfristige klimaneutrale Wärmeplanung vorgelegt. Ziel ist es, den Wärmebedarf der Stadt bis 2045 klimaneutral zu decken. mehr...