Sonntag, 22. Dezember 2024

Netze BWEffizienter Netzbetrieb mit KI

[28.06.2021] Mithilfe künstlicher Intelligenz kann Netze BW ermitteln, bei welchen Abschnitten im Gasverteilnetz am wahrscheinlichsten Schadensfälle auftreten werden und diese gezielt austauschen. KI-Lösungen sorgen aber auch in anderen Bereichen für einen effizienteren Netzbetrieb.
Drohnen-Einsatz bei Marbach/Neckar: KI kann die Auswertung der Bilder von Hochspannungsleitungen erheblich erleichtern.

Drohnen-Einsatz bei Marbach/Neckar: KI kann die Auswertung der Bilder von Hochspannungsleitungen erheblich erleichtern.

(Bildquelle: Netze BW)

Die Digitalisierung bietet für den sicheren und effizienten Betrieb kritischer Infrastrukturen riesige Potenziale. Bei der Netze BW werden nicht wenige bereits in der täglichen Praxis gehoben – vom Anschlusswesen über die Lieferantenbeziehungen bis hin zur Einsatzplanung von Monteuren. Die Erfahrung aus mehreren Pilotprojekten mit komplexen technischen Prozessen zeigt, welch wichtige Rolle künstliche Intelligenz (KI) bei deren Neugestaltung spielen kann.
Besonders vielversprechend entwickelt sich ein Ansatz zur vorausschauenden Instandhaltung im Gasverteilnetz, das von der Region Stuttgart bis in den Zollernalbkreis und ins Hohenlohische reicht. Das Augenmerk liegt auf knapp 4.000 Kilometern, die Netze BW als EnBW-Tochter in Mittel- und Niederdruck bis ein bar betreibt. Damit das Netz nicht überaltert, gilt es, turnusgemäß pro Jahr ein bis zwei Prozent der Leitungen auszutauschen. Seit den 1980er-Jahren arbeiten Experten daran, die Trefferquote bei der Auswahl der Abschnitte mit den wahrscheinlichsten Schadensfällen signifikant zu verbessern – im Rahmen des spartenübergreifenden Projekts Dynamind geschieht das jetzt erstmals mithilfe von KI.
Das notwendige Fundament bietet eine ebenfalls seit den 1980er-Jahren systematisch gepflegte Datenbank mit rund 15.000 Ereignissen aller Art – von der Korrosion bis zum Baggerbiss. Naturgemäß beziehen sich fast alle auf Stahlrohrleitungen. Grauguss spielt kaum mehr eine Rolle und bei PE-Rohren gab es bislang nur wenige Schäden. Hinzu kommen Stammdaten aus dem Anlagen-Management, wie das jeweilige Betriebsjahr oder mögliche Vorschäden. Diese Informationen wurden zielgerichtet ergänzt durch vielfach auf Geo-Informationssystemen basierende Daten, wie Wettereinflüsse, Vegetation in Leitungsnähe, Bodenbeschaffenheit oder das Verkehrsaufkommen. Insgesamt kamen so um die 60 Merkmale zusammen.

Besser Vorbeugen als Heilen

Auf dieser Basis machten sich Statistikexperten und Software-Entwickler daran, durch maschinelles Lernen eine Lösung für die Vorhersage von Schadensraten zu entwickeln. Konkret wurde an digitalen Modellen bestehender Gasnetze mithilfe der umfangreichen Erfahrungswerte trainiert und getestet – stets im engen Austausch mit Experten aus technischem Anlagen-Management, Netzplanung, Projektierung und Betrieb. Bei der Entwicklung des bundesweit bisher wohl einzigartigen Ansatzes kooperierte Netze BW vorsorglich mit einem Spin-off der TU München. Ein zentrales Ergebnis der 2020 durchgeführten Simulationen: Wäre das Modell schon vor fünf Jahren zur Verfügung gestanden und konsequent ein Prozent der Leitungen mit der höchsten Kritikalität ausgetauscht worden, wäre fast ein Drittel der Materialschäden vermeidbar gewesen. Zieht man in Betracht, dass ein situatives Eingreifen regelmäßig deutlich teurer kommt als eine geplante Maßnahme, lässt sich die wirtschaftliche Bedeutung erahnen.
Die innovative IT-Lösung wird seit Januar dieses Jahres bei der zentralen Planung eingesetzt. Nach und nach erhalten die Anwender vor Ort Zugang zu komfortablen Tools einschließlich einer Visualisierung der Datenlage bis auf Gemeindeebene. Der schnelle Überblick über auszutauschende Bauteile in Verbindung mit der Schadenswahrscheinlichkeit und potenziellen Schadenshöhe soll eine valide Priorisierung von Projekten erlauben. Gleichzeitig können Planer damit schnell entscheiden, ob eine Beteiligung an Tiefbaumaßnahmen in einer Kommune sinnvoll wäre. So lässt sich letztlich der Einsatz der Mitarbeiter, aber auch der begrenzten Budgets effizienter gestalten.
Für Ende 2021 hat Netze BW eine erste empirische Auswertung der Praxis vorgesehen. Darauf aufbauend ergeben sich viele Chancen, den Betrieb von Gasnetzen noch effizienter zu gestalten – weit über die ein- bis dreijährige Planung der Instandhaltung hinaus. Interessant ist die Verzahnung der Schadensrate mit dem jeweiligen potenziellen Schadensausmaß, das beispielsweise davon abhängt, ob sich eine Leitung in eher dünn besiedeltem oder stark industrialisiertem Gebiet befindet. Daraus ließen sich Folgerungen für die mittelfristige Budgetplanung, aber auch den Einsatz und Aufbau eigener Kolonnen ableiten. Auf lange Sicht könnten sogar die Kriterien für die Begehung von Leitungsabschnitten präziser gestaltet werden, als sie heute im DVGW-Regelwerk niedergelegt sind. Um bei PE-Leitungen eine vergleichbar hohe Vorhersagegüte wie bei Stahlleitungen zu erreichen, bedarf es weiterer fünf bis zehn Jahre strukturierter Dokumentation.

Wartung von 110-kV-Trassen

Große Chancen durch KI sehen auch die Kollegen aus dem Betrieb der 110.000 Volt Hochspannungsleitungen. Deren Inspektion erfolgt klassisch durch erfahrene Mitarbeiter mit dem Fernglas, die im Zweifel auch auf Masten klettern. An unzugänglichen oder schwer einsehbaren Abschnitten hilft der Blick aus dem – teuren und zudem lauten – Helikopter. Nur in Einzelfällen kam bislang eine Drohne zum Einsatz, deren umfangreiches Bildmaterial dann mit riesigem Aufwand zu sichten war. Deshalb gab es schon länger die Überlegung, dabei auf KI zu setzen. Im Rahmen einer Machbarkeitsstudie wertete ein Projekt-Team jetzt tausende Drohnenfotos von zwei Leitungsabschnitten aus und fütterte mit der Auswahl von „Blaupausen“ die Algorithmen. Vier relevante Kon­stellationen lassen sich inzwischen gut ermitteln.
Bereits umgesetzt wird die Überwachung der Vegetation an den Trassenrändern: Aus Satellitenaufnahmen erkennt die Maschine mit hoher Trefferquote Stellen, an denen Störungen drohen und somit Handlungsbedarf besteht.

Beherrschung der Energiewende

Bei einem für die Versorgungs­infrastruktur zentralen Bereich hat der Gesetzgeber den Betreibern die Digitalisierung sogar ins Stammbuch geschrieben: der Energiewende, das heißt, der zunehmenden Dezentralisierung der Stromerzeugung. Eher im Schatten der Diskussionen um die Einführung des Smart Metering stehen die seit dem Jahr 2018 geltenden EU-Vorschriften zur „Generation and Load Data Provision Methodology“ (GLDPM). Sie verpflichten Verteilnetzbetreiber, den vier Übertragungsnetzbetreibern mit 48 Stunden Vorlauf energieträgerscharfe Einspeise- und Lastprognosen zu liefern. Der Aufwand zur Erhebung und Aufbereitung der Zeitreihen erwies sich bei anfangs betroffenen gut 850 Trafos in rund 350 Umspannwerken der Netze BW noch als gut machbar. Kommen jedoch allein die 25.000 eigenen Ortsnetzstationen (ONS) hinzu, lässt sich die Datenflut mit heutigen Mitteln nicht bewältigen. Deshalb macht NETZlive aus der Pflicht eine Kür: Das Projekt reicht in die 2030er-Jahre und bringt durch vollständige Digitalisierung Licht ins Dunkel des Verteilnetzes. Und damit eine viel präzisere Grundlage, um bei Bedarf rasch steuern zu können.
Angesichts der schieren Menge der Betriebsmittel in Mittel- und Niederspannung kommt die KI ins Spiel und erlaubt eine Methodik zur Abschätzung von Netzzuständen auch in vielen nicht gemessenen Gebieten. Die Datenbasis stammt zum einen aus ferngemeldeten und -gesteuerten (FFU) sowie immer mehr mit Lastgangzählern ausgestatteten ONS, zum anderen aus Messungen von Sensoren mit Internet of Things (IoT) in Ortsnetzen. Weitere wichtige Parameter wie Ladestationen und vor allem Einspeiser lassen sich integrieren. Die von den Algorithmen zu errechnenden State Estimations werden Planer zunehmend dabei unterstützen, Ausbaubedarf präziser erkennen und priorisieren zu können. Zudem erhalten die Leitstellen in Echtzeit einen Überblick über Lastflüsse, wodurch sich Schalthandlungen sicherer durchführen lassen.

Dicke Bretter bohren

Verbindet man die zunehmende Transparenz im Netz sowie die betriebliche Erfahrung mit Wettervorhersagen und weiteren KI-Modellen, lassen sich auch mögliche Netzengpässe mehrere Tage im Voraus absehen. Ist ein Zuviel an Einspeisung auf Hoch- und/oder Mittelspannungsebene zu erwarten, könnten Operatoren Windanlagen abregeln oder aber Wärmepumpen, Ladesäulen und andere Verbraucher aktivieren.
Der vermehrte Einsatz von KI verspricht beim Betrieb kritischer In­frastrukturen also mehr Sicherheit bei gleichzeitig höherer Effizienz. Man sollte sich allerdings bewusst sein, dass es beim maschinellen Lernen um dicke Bretter geht. Und dass es ganz besonders auf eine solide Grundlage an klassisch erhobenen und gepflegten Daten ankommt.

Dr. Tobias Krauss

Der Autor, Dr. Tobias KraussDr. Tobias Krauss leitet seit 2019 den Bereich Data Analytics bei der Netze BW. Zuvor verantwortete er mehrere Jahre die Weiterentwicklung der Daten-Management-Systeme, die damit verbundenen Datenmodelle und -strategien sowie den Aufbau und die Implementierung einer Data Governance.



Anzeige

Weitere Meldungen und Beiträge aus dem Bereich: Netze | Smart Grid

Zukünftige Stromnetze: Transformation der Energieinfrastruktur

[10.12.2024] Am 29. und 30. Januar 2025 diskutieren Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Netzbetrieb auf der Tagung Zukünftige Stromnetze in Berlin über Strategien und Innovationen für die Transformation der Energieinfrastruktur. mehr...

Voltaris: Entwicklungen im Messwesen diskutiert

[06.12.2024] Die Voltaris Anwendergemeinschaft hat sich Ende November in Kaiserslautern zur „Expertenrunde Metering“ getroffen. Im Fokus standen aktuelle Herausforderungen und Perspektiven des intelligenten Messwesens sowie der kommende Hochlauf des Smart Meter Roll-outs. mehr...

EnBW/Stadtwerke Düsseldorf: iMSys erfolgreich migriert

[22.11.2024] EnBW hat in einer neuen Zusammenarbeit mit den Stadtwerken Düsseldorf über 4.000 intelligente Messsysteme in ihre bestehende IT-Landschaft integriert. Der Dienstleisterwechsel wurde dank eines automatisierten Prozesses in rund neun Monaten erfolgreich umgesetzt. mehr...

TenneT/TransnetBW: Einsatz von VertiGIS bei SuedLink

[19.11.2024] Die Übertragungsnetzbetreiber TenneT und TransnetBW haben sich jetzt für VertiGIS Studio als zentrale Softwarelösung für die Planung und Umsetzung des SuedLink-Projekts entschieden. mehr...

Das Bild zeigt eine Situation in einem Testlabor.

Smight: Neue Lösung für Netzstabilität

[07.11.2024] Der 14a-Lastmanager von Smight wurde erfolgreich unter realitätsnahen Bedingungen getestet. Zusammen mit dem SMIGHT IQ Copilot kann nun die gesamte Prozesskette zur Erkennung und Steuerung von Netzüberlastungen abgedeckt werden. mehr...

Cunewalde: Ortsnetzstation mit Grips

[06.11.2024] Cunewalde erhält eine intelligente Ortsnetzstation. Für die Gemeinde und SachsenEnergie ist dies ein wichtiger Schritt für Digitalisierung und Transparenz des kommunalen Stromnetzes. mehr...

Das Bild zeigt die Leitstelle des Elektrizitätswerks der Stadt Zürich. Zu sehen ist ein Mitarbeiter vor mehreren Überwachungsbildschirmen.

Zürich: ewz nutzt Leitsystem ControlStar

[04.11.2024] Um die Netzsicherheit und -effizienz zu erhöhen, hat sich das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (ewz) für das Leitsystem ControlStar des IT-Anbieters Kisters entschieden. Das neue System bietet erweiterte Funktionen zur Fehlererkennung und Regelenergie sowie zur automatisierten Datenanalyse. mehr...

Bundesnetzagentur: Niedrigere Netzentgelte im kommenden Jahr

[28.10.2024] Ab Januar 2025 können Verbraucher in Regionen mit starker Wind- und Sonnenenergieerzeugung von deutlich reduzierten Netzentgelten profitieren. Die Bundesnetzagentur setzt dabei auf eine faire Kostenverteilung und sieht insbesondere für Haushalte spürbare Einsparungen vor. mehr...

Das Bild zeigt eine riesige Kabeltrommel mit Erdkabeln, die in einen Graben verlegt werden.

SuedLink: Erste Kabel verlegt

[23.10.2024] Der Kabelhersteller Prysmian hat mit der Verlegung der ersten Erdkabel für SuedLink begonnen. Die Leitung soll sauberen Strom aus Norddeutschland in den Süden bringen. mehr...

Das Bild zeigt das Innere einer Trafokompaktstation der Stadtwerke Völklingen Netz.

Stadtwerke Völklingen: Valide Daten für die Netzplanung

[21.10.2024] Die Stadtwerke Völklingen Netz setzen auf moderne Messtechnik, um das Stromnetz zukunftssicher zu machen. Mit digitalen Lösungen zur präventiven Netzüberwachung sorgt das Unternehmen für eine stabile Energieversorgung in der Region. mehr...

Netzleitstand: Eine minutenaktuelle Netzzustandserfassung löst bei Bedarf eine dynamische Ad-hoc-Steuerung aus.

Netzsteuerung: Grenzen Digitaler Zwillinge

[15.10.2024] Mit einer Kombination aus Digitalem Zwilling und Niederspannungsleitsystem können Netzbetreiber einen wichtigen Teil der §14a-Prozesse umsetzen. Der letzte noch fehlende Baustein ist ein massendatenfähiges Flexibilitätsmanagement. mehr...

Abgebildtet ist das Umspannwerk Mentzing mit Supraleiter-Kabel im Vordergrund.

München: Erster Supraleiter in Betrieb

[11.10.2024] Der Netzbetreiber SWM Infrastruktur hat zusammen mit Partnern einen 110.000-Volt-Supraleiter entwickelt und im Münchner Stromnetz erfolgreich getestet. Der Prototyp könnte die Grundlage für die Stromversorgung der Zukunft bilden. mehr...

Einfach und schnell: Der Einbau der Smight-Technologie erfolgt von den Mitarbeitenden selbst.

Stadtwerke Frankenthal: Lösungen für ein stabiles Stromnetz

[26.09.2024] Um ihr Stromnetz besser überwachen und planen zu können, setzen die Stadtwerke Frankenthal auf die Messlösung SMIGHT Grid2. Damit wollen sie Überlastungen frühzeitig erkennen und das Netz fit für die Zukunft machen. mehr...

Oberhausener Netzgesellschaft rüstet ihre Ortsnetzstationen mit SMIGHT Grid2 aus.

OB Netz: Digitale Netztransparenz

[09.09.2024] Die Oberhausener Netzgesellschaft nutzt jetzt Echtzeitdaten, um ihr Niederspannungsnetz besser zu überwachen und effizienter zu planen. Mit der neuen Sensorik von Smight können Stromflüsse und Spannungen minutengenau erfasst werden. mehr...

Neues Umspannwerk: Stadtwerke Bochum reagieren auf den steigenden Strombedarf.

Stadtwerke Bochum: Neues Umspannwerk in Betrieb

[02.09.2024] Nach vierjähriger Bauzeit haben die Stadtwerke Bochum ein neues Umspannwerk in Betrieb genommen. Die Anlage soll den steigenden Energiebedarf decken und die Energieversorgung des innovativen Bochumer Gewerbegebiets MARK 51°7 sicherstellen. mehr...