ÖhringenDie Wasserstoff-Insel
In Phasen hoher regenerativer Erzeugung muss zunehmend in den Netzbetrieb eingegriffen werden. Um eine stabile Stromversorgung sicherzustellen, müssen vor allem Windenergie- oder auch Photovoltaikanlagen gedrosselt oder gar abgeschaltet werden. Das kann sich das Energiesystem angesichts des Atom- und des beschleunigten Kohleausstiegs jedoch auf Dauer nicht leisten. Batteriespeicher in der benötigten Größenordnung werden auch in absehbarer Zeit nicht zur Verfügung stehen. Das Erdgasnetz mit seinen riesigen Kapazitäten gilt hier als vielversprechende Alternative – wenn es mit Power-to-Gas-Anlagen verknüpft wird.
Spannende Innovationen
Branchenweit gibt es bereits eine Reihe von Projekten zur Forschung und Entwicklung, wie das Rohrleitungssystem die Energiewende stützen kann. Im Versorgungsgebiet von Energie Baden-Württemberg (EnBW) treiben unter anderem die Unternehmen Energiedienst aus Rheinfelden und ZEAG aus Heilbronn spannende Innovationen voran. Die EnBW-Tochter Netze BW verfolgt einen deutschlandweit bislang einmaligen Ansatz: Es soll gezeigt werden, dass und wie eine Beimischung von bis zu 30 Prozent Wasserstoff im Erdgasnetz für Kunden, Gerätehersteller und natürlich für die Netzinfrastruktur realisierbar ist. Das Pilotprojekt soll zudem den praktischen Beleg erbringen, dass eine zuverlässige Gasversorgung mit deutlich weniger CO2 möglich ist.
Versuchsnotwendige Anlagen
Auf der Suche nach einem geeigneten Netzgebiet wurde Netze BW in Öhringen fündig. In der hohenlohischen Stadt befindet sich eine eigene ans Gasnetz angeschlossene Niederlassung mit genügend Platz für weitere versuchsnotwendige Anlagen. Außerdem lässt sich im direkten Umfeld ein Abschnitt mit rund zwanzig Hausanschlüssen unkompliziert als Inselnetz abtrennen.
Auf dem Betriebsgelände errichtet Netze BW, so sich das unter den Corona-Vorzeichen noch realisieren lässt, ab Sommer 2020 einen Elektrolyseur mit einer Leistung von 300 Kilowatt elektrisch (kWel), der pro Stunde bis zu 60 Normkubikmeter Wasserstoff erzeugen kann. Das Gas wird über eine für das Projekt eigens zu installierende Einspeiseanlage direkt dem Erdgasnetz zugeführt. Der beigemischte Anteil wird nach und nach auf bis zu 30 Prozent erhöht. Dabei wird minutiös untersucht, wie sich das auf die relevanten Komponenten und Prozesse auswirkt.
Zusammenspiel aus Erzeugung und Einspeisung
Im Mittelpunkt stehen zunächst die Rohrleitungen sowie die Sicherheits- und Messtechnik. Ein nicht zu unterschätzender, fundamentaler Aspekt dabei ist, wie sich der Verbrauch von Mischgasen und die darauf basierende Abrechnung eichrechtlich konform gestalten lassen. Aus Sicht der Netzkunden, aber auch der Hersteller, ist eine ganz andere Frage von höchster Bedeutung: Funktionieren die Geräte genauso zuverlässig? Bringt das Gemisch möglicherweise höheren Verschleiß oder intensivere Wartungstätigkeiten mit sich? Und falls ja, mit welchen Maßnahmen ließe sich dem entgegenwirken?
In Phase eins, die zur kommenden Heizperiode starten soll, beschränkt sich Netze BW ganz bewusst auf den eigenen Standort. Erst wenn das Zusammenspiel aus Erzeugung und Einspeisung optimal funktioniert und die Versorgung der eigenen Gebäude stabil läuft, kann Phase zwei in den angrenzenden Straßenzügen beginnen. Dazu wird der ausgewählte Bereich mit etwa zwanzig Hausanschlüssen von der umliegenden Infrastruktur abgekoppelt. Daraus leitet sich auch der Name „Wasserstoff-Insel Öhringen“ für das Projekt ab, das bis Anfang 2023 laufen soll.
Viele Akteure
Schon während der ersten Überlegungen und Vorarbeiten wurde klar, dass sehr viele Akteure in so ein Vorhaben einzubeziehen sind, wenn es denn wegweisende Erkenntnisse bringen soll. Grundlage ist zunächst, dass die Verbraucher die Bedeutung der Tests nachvollziehen und entsprechend mitmachen. Im Rahmen eines Informationsabends hat das Projekt-Team die angewandte Technik und das geplante Vorgehen erläutert. Über den gesamten Testzeitraum wird ein enger Austausch mit den Teilnehmern gepflegt. Erfreulicherweise erhielt das Projekt schnell eine klare Unterstützung von der Rathausspitze und dem Gemeinderat.
Auch die Hersteller von Gasgeräten und Messtechnik müssen bereit sein, Neuland zu betreten. Das Regelwerk des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfachs (DVGW) sieht nur eine zehnprozentige Beimischung von Wasserstoff vor. Die gängigen Geräte für Heizung und Warmwasser müssen mit einem Gasgemisch mit 23 Prozent Wasserstoff getestet werden. Erste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass 30 Prozent Beimischung machbar sind. Informations- und Abstimmungsbedarf besteht insbesondere vor Ort mit den Installateuren und Schornsteinfegern, der Feuerwehr und technischen Gutachtern.
Technische und regulatorische Rahmenbedingungen
Bevor aus der Insel eine flächendeckende Lösung werden kann, müssen viele technische und regulatorische Rahmenbedingungen angepasst werden. Lässt sich im Praxistest beweisen, dass schon heute eine Beimischung von bis zu 30 Prozent Wasserstoff im realen Netzbetrieb möglich ist, werden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Zum einen bietet Netze BW einen Lösungsansatz für eine signifikante CO2-Reduzierung bei der Gasversorgung. Und zum anderen wird ein weiterer Weg aufgezeigt, wie sich das Speicherproblem bei der regenerativen Energieerzeugung schneller in den Griff bekommen lässt.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe Mai/Juni 2020 von stadt+werk erschienen. Hier können Sie ein Exemplar bestellen oder die Zeitschrift abonnieren.
https://www.netze-bw.de/wasserstoff-insel
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