NetzausbauDie Netze der Zukunft
Vor mehr als 20 Jahren haben Sonnen- und Windenergie ihren Einzug in die Energieversorgung gehalten. Damals galten sie noch als zwei weitere Primärenergiequellen, die ohne tiefgreifende Änderungen an die vorhandenen Systeme angeschlossen werden können. Heute haben Photovoltaik und Windkraftanlagen einen maßgeblichen Anteil an der Stromerzeugung und es muss mit einer weiteren Beschleunigung des Wachstums gerechnet werden. Doch der Ansatz, erneuerbare Energien an die vorhandenen Systeme anzuschließen, greift zu kurz. Vielmehr müssen die elektrischen Energieversorgungssysteme so weiterentwickelt werden, dass sie die neuen Quellen in großem Stil einbinden können.
Stärkster Treiber der Veränderung ist inzwischen die Photovoltaik, die nach starken Kostensenkungen zunehmend Netzparität erreicht oder bereits unterschritten hat. Damit sind die Stromgestehungskosten gleich dem Strompreis konventioneller Energie und die Photovoltaik ist wettbewerbsfähig mit den Endabnehmerpreisen an den Niederspannungsnetzen. Für die Nutzung der Photovoltaik bedeutet das, dass sie unter der Voraussetzung eines überwiegend arbeitsbasierten Netznutzungsentgelts für die Eigenbedarfsdeckung im Haushaltsbereich wirtschaftlich ist. Damit ist sie für einen großen Anwendungsbereich unabhängig von direkter Förderung geworden, solange sie nur den Eigenbedarf ihrer Besitzer mindert.
Vier Eigenschaften der erneuerbaren Energien verändern die Systeme der elektrischen Energieversorgung grundlegend:
● Der Anteil verbrauchsferner Erzeugung nimmt zu. Diese Entwicklung wird vor allem durch die stark standortabhängige Windenergie getrieben.
● Die dezentrale Erzeugung nimmt vor allem wegen der Photovoltaik zu. Grund ist die bereits angesprochene Netzparität am Niederspannungsnetz. Vor allem sehr kleine Photovoltaikanlagen werden dazu führen, dass ein nennenswerter Anteil der Erzeugung mit einer sehr großen Zahl kleiner Einheiten in die unteren Verteilungsebenen einspeisen wird.
● Die Volatilität kommt von beiden Quellen und führt zu schnelleren, größeren und vor allem im Fall der Windenergie nur begrenzt prognostizierbaren Schwankungen des Leistungsangebots.
● Die systemstabilisierenden rotierenden Massen fehlen bei Photovoltaikanlagen sowie bei der Windenergie im Fall der Netzeinbindung über Stromrichter und nehmen demzufolge ab.
Diese vier Veränderungen sowie der Einfluss neuer Verbraucher als Veränderungstreiber haben Auswirkungen in allen Bereichen der elektrischen Energieversorgung und -anwendung.
Auch der Betrieb konventioneller Kraftwerke ist in mehrfacher Hinsicht betroffen. Die technisch anspruchsvollste Änderung ist der zunehmend häufige Betrieb von Kraftwerken, die ursprünglich zur Deckung der Grundlast vorgesehen waren, im Lastfolgebetrieb mit starken Gradienten der Leistungsabgabe. Ein weiterer Faktor, der den Betrieb von konventionellen Kraftwerken beeinflusst, ist die Tatsache, dass Wind- und Sonnenenergie keine variablen Kosten haben und somit in der Einsatzreihenfolge eines energiekostenbasierten Marktes immer am Anfang liegen. Damit verdrängen sie die konventionelle Erzeugung, wodurch die Auslastung dieser Anlagen sinkt und die Fixkostendeckung erschwert wird.
Je größer, desto besser
In den Übertragungsnetzen führt die verbrauchsferne Erzeugung zu einem erhöhten Kapazitätsbedarf. Aber auch die Volatilität der Erzeugung, insbesondere in Verbindung mit den niedrigen Volllaststundenzahlen der erneuerbaren Energien, erhöht den Übertragungsbedarf. Denn die Ausweitung des Verbunds stellt die im Vergleich mit allen Alternativen kostengünstigste Möglichkeit dar, volatile Erzeugung und Verbrauch durch Vergrößerung des statistischen Kollektivs aufeinander abzustimmen.
Den Nutzen dieses Effekts für die Integration eines sehr hohen Anteils erneuerbarer Energiequellen in die elektrische Energieversorgung zeigt eine Ausweitung des europäischen Verbunds auf den Norden Afrikas und den Mittleren Osten. Kostenvorteile ergeben sich hier aufgrund der im Vergleich zu Europa weitaus größeren Menge an guten Standorten. Dabei sind die Kosten für die zusätzlich benötigte Übertragungskapazität bereits eingerechnet. Ein weiterer Kostenvorteil basiert auf einer besseren Abstimmung des Angebots an erneuerbaren Energien und dem Bedarf aufgrund der komplementären Jahresgänge von Wind und Verbrauch in Europa und den Regionen südlich des Mittelmeers.
Die in Zukunft benötigten Übertragungsnetze werden voraussichtlich jedoch andere sein als die der Vergangenheit. Angesichts der großen Übertragungsentfernungen in Verbindung mit den sich wegen der hohen Einspeisungsspitzen der erneuerbaren Quellen häufig grundlegend ändernden Lastflusssituationen ist eine überlagerte Übertragungsebene mit einem so genannten Overlay-Netz auf der Basis von Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungstechnik (HGÜ) eine Option. Eine Schlüsselkomponente hierfür ist der von ABB entwickelte Hochspannungs-Gleichstrom-Leistungsschalter.
In der Verteilung erfordert der Ausbau dezentraler Erzeugung oft eine Verstärkung der Netze. In ländlichen Netzen mit verhältnismäßig langen Leitungen kann es bereits vorher zu Problemen bei der Spannungshaltung kommen. Da die Ursache nicht in der einen Belastungssituation liegt, für die das Netz ausgelegt wurde, sondern in der Vielzahl der Betriebszustände zwischen Einspeisung und Entnahme, ist die traditionelle Lösung der manuellen Anpassung der Übersetzung des Ortsnetztransformators nicht mehr ausreichend. In solchen Fällen kann die häufig deutlich teurere Netzverstärkung durch Installation eines Spannungsreglers, etwa eines regelbaren Ortsnetztransformators, hinausgezögert oder sogar ganz vermieden werden.
Die zunehmende Vielfalt an Betriebszuständen in den Verteilungsnetzen erhöht den Informationsbedarf. Eine zumindest teilweise Automatisierung der bisher kaum fernüberwachten oder gesteuerten Ortsnetzstationen wird die Folge sein. Sowohl dezentrale Erzeugung als auch Elektromobilität werden dazu führen, dass die Kapazität der Verteilungsnetze künftig nicht mehr für alle Situationen ausreicht. Das bedeutet, dass Engpässe vorausschauend erkannt und aufgelöst werden müssen. Dieser Vorgang ist bei der Abstimmung zwischen Großkraftwerken und Systembetreibern bewährte Praxis. Die Lösungen für die Verteilungsnetze müssen demgegenüber aber standardisierter und automatisierter sein. Ein Beispiel für den vorausschauenden Verteilungsnetzbetrieb, der auch die Anforderungen des liberalisierten Marktes berücksichtigt, wurde im Rahmen des E-Energy-Projekts MeRegio entwickelt und erfolgreich zum Einsatz gebracht.
Verbrauchen ja, aber flexibel
Aufgrund der Volatilität der erneuerbaren Energien gewinnt die kurzfristige Flexibilisierung des Verbrauchs an Bedeutung. Maßnahmen zur Lastbeeinflussung, insbesondere bei Verbrauchern mit funktionsbedingt integrierten Speichern, können dazu einen Beitrag leisten. In Deutschland sind die Anforderungen an den Ausgleich von Last und Erzeugung für verschiedene Zeitbereiche definiert. Lastbeeinflussung kann besonders in den ersten 15 Minuten einen Beitrag leisten. Dieser Zeitbereich ist wichtig, weil er ausreicht, um schnellstartfähige Kraftwerke anzufahren. Oberhalb der 15 Minuten ist die Nutzung von Lastbeeinflussung nur bei ausgewählten Anwendungen realistisch.
Die Lastbeeinflussung eignet sich besonders für Wärme- und Kälteanwendungen, da eine thermische Energiespeicherung meist kostengünstig realisierbar ist. Für die Nutzung von verbrauchsseitigen Flexibilitätsoptionen ist deshalb eine ganzheitliche Betrachtung der Bereitstellung von elektrischer Energie sowie von Wärme und Kalte unerlässlich.
Da es keine Möglichkeit gibt, größere Mengen elektrischer Energie direkt zu speichern, war die Leistungsbilanzierung schon immer von zentraler Bedeutung. Sie wird durch die Volatilität der erneuerbaren Energiequellen und ihre sehr hohen Erzeugungsspitzen deutlich anspruchsvoller. Die Energiespeicherung ist deshalb ein weiterer wichtiger Baustein für die Integration erneuerbarer Energien. Speicher sind aufgrund ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeiten, die neben technischen Aspekten auch stark von den Rahmenbedingungen des jeweiligen Elektrizitätsmarktes abhängen, ein ausgesprochen umfangreiches und komplexes Thema, das eine gesonderte Behandlung erfordert und auf das deshalb hier nicht im Detail eingegangen wird.
Der Übergang von einer auf thermischen Kraftwerken basierenden Stromversorgung hin zu einer, die auf erneuerbaren Energien als wesentlicher Quelle fußt, hat technische Auswirkungen in allen Bereichen der elektrischen Energieversorgung und -anwendung.
Energieversorgung von morgen
In der konventionellen Erzeugung werden künftig Anlagen benötigt, die auch bei niedriger Auslastung und in häufig und schnell wechselnden Lastsituationen wirtschaftlich betrieben werden können. Die Übertragungsnetze werden wesentlich mehr Fernübertragungsaufgaben bei stark wechselnden Lastflusssituationen übernehmen müssen. Zum Ausgleich der starken Volatilität der neuen erneuerbaren Quellen sind großräumige Verbundsysteme, wie sie beispielsweise im Rahmen des Desertec-Konzepts für die Region Europa-Nordafrika-Naher Osten vorgeschlagen werden, eine Option.
Sehr weitreichend sind die Folgen der dezentralen Einspeisung in den Verteilungsnetzen. Zunächst wird eine Erhöhung der Netzkapazität oft unvermeidbar sein. Häufig wird auch eine Spannungsüberwachung und -regelung erforderlich sein. Und zuletzt wird es nicht mehr sinnvoll sein, die Verteilungsnetze auf seltene Extremsituationen auszulegen. Dies führt zur Notwendigkeit von Überwachung und Steuerung bis in die Sekundärverteilung.
Der Ausgleich von Last und Erzeugung wird in Systemen mit stark schwankendem und nicht speicherbarem Primärenergieangebot schwieriger. Neben den bewährten Pumpspeichern können Batteriespeicher im Kurzfristbereich, also beispielsweise für die Frequenzstabilisierung und Spitzenreduktion, schon heute einen Beitrag leisten. Im längerfristigen Bereich, also vor allem zum Ausgleich jahreszeitlicher Schwankungen, wird dagegen eher die Vergrößerung der Verbundsysteme zum Tragen kommen.
Die größten Herausforderungen bei der erforderlichen Weiterentwicklung der Systeme sind zum einen die Abstimmung der erforderlichen Maßnahmen in allen betroffenen Systembereichen und zum anderen die Entwicklung geeigneter Speicher, der Systembetrieb ohne rotierende Massen und die Integration sehr großer Zahlen dezentraler Einheiten in die Systembetriebsführung.
Dieser Beitrag ist in der November/Dezember-Ausgabe von stadt+werk erschienen. Hier können Sie ein Exemplar bestellen oder die Zeitschrift abonnieren.
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