Freitag, 22. November 2024

InterviewGewaltiger Kraftakt

[09.08.2023] Hansjörg Roll fordert, der Bund müsse mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr bis 2035 bereitstellen, um den Ausbau der Wärmenetze zu beschleunigen. stadt+werk sprach mit dem AGFW-Präsidenten über die Rahmenbedingungen für eine Dekarbonisierung der Fernwärme.
Dr.-Ing. Hansjörg Roll

Dr.-Ing. Hansjörg Roll

(Bildquelle: MVV Energie AG)

Herr Dr. Roll, nach dem Fernwärmegipfel haben Sie an die Bundesregierung appelliert, dass die Unternehmen Planungssicherheit und geeignete Förderbedingungen benötigen. Wie wichtig ist grüne Fernwärme als Standbein für die klimaneutrale Wärmeversorgung in Deutschland?

Grüne Fernwärme ist aus unserer Sicht die Schlüsseltechnologie für eine klimaneutrale Wärmeversorgung in Deutschland. Gerade in den Städten ist sie oftmals die einzige Möglichkeit, die Klimaziele kosteneffizient im Vergleich zu anderen klimaneutralen Lösungen zu erreichen. Ein Vorteil der leitungsgebundenen Wärmeversorgung liegt in der Flexibilität bei der Wahl der Energieträger. In Mannheim beispielsweise setzen wir unter anderem auf eine innovative Großwärmepumpe. Auf diese Weise können wir das Flusswasser des Rheins als klimaneutrale Wärmequelle nutzen, um Fernwärme zu erzeugen. Deutschlandweit investieren die Wärmeversorger seit Jahren hohe Summen, um ihre Netze zu dekarbonisieren. Mit den richtigen Rahmenbedingungen kann unsere Branche die Zahl der Haushalte mit Fernwärmeanschluss bis 2050 verdreifachen. Das wäre ein Anstieg von heute 6 auf 18 Millionen Haushalte.

Vor welchen Herausforderungen steht die Fernwärme-Branche bei der Dekarbonisierung und dem Ausbau ihrer Netze?

Um die Transformation und den Ausbau der Fernwärme in dem gesetzten Rahmen zu schaffen, ist ein gewaltiger Kraftakt notwendig – von den Unternehmen, aber auch von Politik und Gesellschaft insgesamt. Dass da ein deutliches Umdenken stattfinden muss, sehen wir beispielsweise an der Mittelausstattung der Bundesförderung für effiziente Wärmenetze (BEW). Diese verfügt aktuell über Mittel in Höhe von drei Milliarden Euro für vier Jahre. Was wir stattdessen aber bräuchten, um das gewaltige Investment zu stemmen, wäre eine Fördersumme von mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr, und das langfristig bis 2035. Stabilität von Rahmenbedingungen bedeutet für uns auch, dass verschiedene Gesetzesvorhaben sinnvoll miteinander verknüpft werden. Bestes Beispiel hierfür ist aktuell das Gebäudeenergiegesetz, das besser als bisher vorgesehen mit dem Wärmeplanungsgesetz verzahnt werden müsste.

Wie hoch ist der aktuelle Anteil der Fernwärme an der Dekarbonisierung im Vergleich zum gesamten deutschen Wärmemarkt?

Mit Fernwärme werden heute rund 14 Prozent der Haushalte versorgt, das sind sechs Millionen Haushalte. Der Anteil an erneuerbarer und klimaneutral erzeugter Fernwärme liegt aktuell bei 30 Prozent. Rein rechnerisch liegt also der Anteil an dekarbonisierter Fernwärmeversorgung am gesamten Gebäudewärmemarkt in der Größenordnung von vier Prozent. Dieser Wert ist allerdings teilweise irreführend. So gibt es heute bereits Wärmenetze, die ihre Kunden mit deutlich höheren Werten oder sogar vollständig mit klimaneutraler Wärme versorgen. In Mannheim sind beispielsweise bereits mehr als zwei Drittel der Haushalte an das Fernwärmenetz angeschlossen – neben den regionalen Verbindungen, etwa nach Heidelberg oder Speyer. Seit dem Jahr 2020 wird hier der Fernwärmebedarf in den Sommermonaten bereits komplett grün abdeckt. Und noch in dieser Dekade soll die Fernwärmeversorgung in Mannheim und der Region zu 100 Prozent auf grüne Energiequellen umgestellt werden.

„Die Zahl der Haushalte mit ­Fernwärmeanschluss kann bis 2050 verdreifacht werden.“
Wie realistisch ist es, bis 2045 eine vollständige Dekarbonisierung der Fernwärme zu erreichen?

Wärmeversorger, die für den Umbau ihrer Wärmenetze Förderung nach der BEW beantragen, sind verpflichtet, einen Plan vorzulegen, der bis 2045 eine vollständige Dekarbonisierung des Wärmenetzes vorsieht. Dieser Transformationsprozess erfordert entsprechende Investitionen und geeignete Rahmenbedingungen. Sind die vorhanden, kann das Ziel für das jeweilige Netz erreicht werden.

Was ist zu tun, um die Ziele der Fernwärmewende zu erreichen?

Wir benötigen stabile Rahmenbedingungen, deutlich mehr Tempo bei Planung- und Genehmigungsverfahren und eine verlässliche Förderung, die nicht von Jahr zu Jahr vom Bundeshaushalt abhängig ist. Eine kluge und passgenaue Verzahnung aller relevanten Gesetze, Verordnungen und Förderrichtlinien ist essenziell für den Erfolg der Wärmewende. Bei den bestehenden Gesetzen und Verordnungen gibt es Schwächen und teilweise Widersprüche, die dringend behoben werden müssen. Ein Beispiel ist die Wärmelieferverordnung. Sie bremst derzeit den Ausbau der Fernwärme. Eine Novellierung ist dringend geboten.

Wie bewerten Sie die aktuelle Unterstützung für die Transformation der Wärmeversorgung durch die Bundesförderung für effiziente Wärmenetze?

Was wir heute durch die BEW an Unterstützung für die Transformation bekommen, ist leider der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein. Das Investitionsvolumen der Unternehmen bis 2030 liegt bei mindestens 50 Milliarden Euro. Damit diese Transformation sozialverträglich gestaltet werden kann, benötigen wir, wie schon erwähnt, ein verlässliches Fördervolumen von mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr in der BEW. Der Fördermittelbedarf von Wärmepumpen für Einzelhausbeheizungen wäre deutlich höher.

Inwiefern ist die Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) ein Garant für Versorgungssicherheit?

Die Technologie ist derzeit das Rückgrat vieler Fernwärmenetze. Ihr Vorteil: Sie ist kompatibel mit zukünftigen Brennstoffen, wie beispielsweise Wasserstoff, und steht in den Zeiten zur Verfügung, in denen es mit den fluktuierenden erneuerbaren Energien knapp werden kann. Relevante Studien zeigen die Notwendigkeit eines schnellen Hochlaufs von Wasserstoff und von KWK-Anlagen für die Erreichung der Klimaziele und der Stromversorgungssicherheit. Auch und gerade mit einem starken Zubau von Wind- und Photovoltaik-Stromerzeugung und dem dynamischen Ausbau von elektrischen Anwendungen in der Industrie, Wärmepumpen in den Gebäuden und der E-Mobilität braucht es Wasserstoff und KWK-Anlagen, um die stark steigende Strom-Verbrauchslast zu Winterzeiten klimaneutral abzusichern. Die Effizienzvorteile der KWK-Anlagen kommen beim Einsatz von Wasserstoff in Zukunft noch deutlicher als bisher zum Tragen, da der Wasserstoff durch die parallele Wärmebereitstellung besonders effizient ausgenutzt wird. Hierfür können in der städtischen Fernwärmeversorgung die KWK-Anlagen ausgebaut werden, da diese den Wasserstoff und andere klimaneutrale Gase und Flüssigkeiten besonders effizient ausnutzen – im Gegensatz zu den ungekoppelten Strom-Peakern mit einem Wirkungsgrad von maximal 40 Prozent.

Welche Hürden müssen beseitigt werden, um den Aus- und Umbau der Fernwärme zu beschleunigen?

Bei den erneuerbaren Wärme-Technologien ist beispielsweise die Verfügbarkeit von Flächen ein wichtiges Thema. Diese fehlen in den meisten Städten. Hier ist ein Vorrang für den Ausbau der Wärme­versorgung notwendig. Bei der Erschließung von klima­neutralen Energien, wie beispielsweise Geothermie und Abwärme, mangelt es derzeit an Instrumenten zur Ab­sicherung von finanziellen Risiken bei Erschließung und Verfügbarkeit. Die Liste ließe sich auch für andere Technologien wie Großwärmepumpen, Biomasse, Solarthermie und Power to Heat beliebig fortsetzen.

Interview: Alexander Schaeff

Im Interview, Dr. Hansjörg RollDr.-Ing. Hansjörg Roll ist Präsident des AGFW e. V. Der Verband vertritt die Interessen von mehr als 600 Unternehmen der Kraft-Wärme-Kopplung, der Wärmewirtschaft und der Industrie. Roll ist seit 2015 Mitglied des Vorstands der MVV Energie AG und dort für den Bereich Technik zuständig.



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