Sonntag, 24. November 2024

StadtplanungZukunft des Bauens

[19.03.2020] Angesichts des Klimawandels stehen Architekten und Stadtplaner vor großen Herausforderungen. Die Frage lautet: Wie kann durch nachhaltige Stadt- und Quartiersentwicklung das Ziel eines klimaneutralen Gebäudebestands bis 2050 erreicht werden?
Fassadenbegrünung wirkt sich nicht nur positiv auf das Mikroklima innerhalb eines Quartiers aus

Fassadenbegrünung wirkt sich nicht nur positiv auf das Mikroklima innerhalb eines Quartiers aus, sondern leistet auch einen positiven Beitrag zum Innenraumklima.

(Bildquelle: Pierluigi Palazzi/123rf.com)

Mit dem Klimaschutzplan 2050 verfolgt die Bundesregierung ein anspruchsvolles Ziel: Bis zum Jahr 2050 soll Deutschland nahezu treibhausgasneutral werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden für die Handlungsfelder Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft sowie Landnutzung und Forstwirtschaft umfassende Klimaschutzziele definiert. Eine bedeutende Rolle nimmt in diesem Kontext der Gebäudesektor ein, ist dieser doch immerhin für 14 Prozent der gesamten CO2-Emissionen in Deutschland (120 Millionen Tonnen) verantwortlich. Werden die Emissionen hinzugerechnet, die bei der Herstellung von Baustoffen, Strom und Wärme entstehen, liegt der Gesamtanteil der CO2-Emissionen sogar bei 28 Prozent. Zusätzlich gehört der Bausektor zu den rohstoffintensivsten Wirtschaftsbereichen in Deutschland: Rund 50 Milliarden Tonnen mineralischer Rohstoffe, wie Kalk, Gipsstein, Kies, Sand oder Ton, „lagern“ im Gebäudebestand.

Energiepotenziale nutzen

Aus diesen Gründen wird zur Erreichung der nationalen und internationalen Klimaschutzziele das Ziel eines klimaneutralen Gebäudebestands bis 2050 verfolgt. Die Bundesregierung hat hierzu mit der Energieeffizienzstrategie Gebäude eine Gesamtstrategie für diesen Sektor vorgelegt. Mit ihr wird ein klarer Handlungsrahmen für die Energiewende im Gebäudebereich geschaffen. Das Ziel: den Anteil der erneuerbaren Energien am Wärmeverbrauch erhöhen und die Energieeinsparung am Gebäude verstärken.
Zukünftig wird daher die Gebäudehülle mit Dach und Fassade verstärkt zur Nutzung von Solarenergie zur Stromerzeugung über Photovoltaik oder zur Wärmeerzeugung über Solarthermie genutzt werden. Der Entwurf dieser Elemente und die Integration in den Gebäudeentwurf geschehen immer noch zu spät und zumeist als technische Planung ohne Gestaltungsanspruch. Weitere Versorgungslösungen nutzen vermehrt Energiepotenziale aus dem urbanen Raum, wie gewerbliche und industrielle Abwärme, großflächige Solarenergie auf gewerblichen Bauten, Verkehrsrandflächen oder anderen Restflächen. Immer wichtiger wird auch die Sektorkopplung zwischen Stromerzeugung, Wärmeerzeugung über Wärmepumpen, Elektromobilität und den dafür notwendigen Speichern.

Platin vorzertifizierter Hamburger Stadtteil

Neben den rein energetischen Fragestellungen zeigen Zertifizierungssysteme einen integrierten Handlungsrahmen auf. Das System der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) für Stadtquartiere erfasst alle relevanten Themen des nachhaltigen Bauens: von der Struktur eines Quartiers über Freiflächenangebote, Bildungseinrichtungen und nachhaltige Mobilität bis hin zur Instandhaltung. So hat die DGNB den Masterplan für Hamburgs Stadtteil Oberbillwerder – ein Projekt der städtischen Entwicklungsgesellschaft IBA Hamburg – mit bis zu 7.000 Wohnungen, bis zu 4.000 Arbeitsplätzen, neuen Schulen, Kitas und Sporteinrichtungen mit der höchsten Auszeichnung in Platin vorzertifiziert. Geprüft wurden die 30 spezifisch für Stadtquartiere entwickelten Kriterien aus den Bereichen ökologische, ökonomische, soziokulturelle, funktionale und technische Qualität sowie die Qualität der Prozesse. Derzeit erfüllen nur acht weitere Stadtquartiere die Kriterien für die höchste Auszeichnung. In Deutschland sind dies Killesberghöhe (Stuttgart), Europaviertel West (Frankfurt am Main), Siedlung Westend, Bautzener Straße und Waterkant (Berlin), Neckarbogen Heilbronn, Zukunft Nord (Karlsruhe) sowie Cloche D`Or in Luxemburg.

Gemeinschaftliches und nachhaltiges Zusammenleben

Entscheidendes Kriterium für die Entwicklung nachhaltiger Quartiere ist die verdichtete nutzungsgemischte Stadt der kurzen Wege. Zahlreiche Aspekte zukünftiger Städte lassen sich nur durch das Nebeneinander unterschiedlicher urbaner Aufgaben und Stadttypologien realisieren. Entsprechend wurde im Mai 2017 die Gebietskategorie „Urbanes Gebiet“ in die Baunutzungsverordnung eingeführt, um in städtischen Lagen eine höhere bauliche Dichte und andere Nutzungsmischungen zu ermöglichen, als dies mit den bisherigen Kategorien, wie dem besonderen Wohngebiet, möglich war. Urbane Gebiete dienen dem Wohnen sowie der Unterbringung von Gewerbebetrieben und sozialen, kulturellen und anderen Einrichtungen, welche die Wohnnutzung nicht wesentlich stören.
Grundlage für eine nachhaltige Stadt- und Quartiersentwicklung sind die Bereitstellung von Räumlichkeiten, die nicht nur die Eigeninitiative der Bewohner fordern, sondern auch ein gemeinschaftliches und nachhaltiges Zusammenleben fördern. Oftmals sind Anlaufstellen des Alltags weit verstreut und teilweise, wie manche Stationen der Paketdienste, nur mit dem Pkw zu erreichen. Diese gilt es zu bündeln und fußläufig erreichbar zu machen. Zentral gelegene Tauschläden, in denen Gegenstände des alltäglichen Lebens „ertauscht“ werden können, oder auch Repair Cafés und Food-Sharing-Stationen vereinen das menschliche Bedürfnis nach Kommunikation und Austausch mit dem ökologischen Gedanken der Ressourceneffizienz.

Intermodaler Verkehr

Auch der Bereich Mobilität und damit die Fortbewegung innerhalb einer Nachbarschaft wird bei nachhaltig geplanten Quartieren gezielt bedacht werden müssen. Das zentrale Ziel besteht hierbei vordergründig in der Reduzierung des MIV (motorisierter Individualverkehr) und der gleichzeitigen Stärkung des Umweltverbundes aus nicht-motorisierten Verkehrsträgern (Fußgänger und öffentliche oder private Fahrräder), öffentlichen Verkehrsmitteln (Bahn, Bus und Taxis) sowie Carsharing und Mitfahrzentralen. Intermodale Punkte zum Umstieg zwischen den unterschiedlichen Verkehrsmitteln sind den vergangenen Jahren in zahlreichen Städten neu entstanden. Unterschiedlichste Anbieter gibt es neben dem stationären Carsharing und der so genannten Freefloater im Bereich des Ridesharings.
Ein weitergehendes Beispiel für nachhaltige Mobilitätskonzepte – deren Kernidee darin besteht, wertvolle Freiflächen nicht durch parkende Fahrzeuge zu blockieren – sind so genannte Mobility Hubs, die den ruhenden Verkehr neu ordnen. Elf dieser Mobility Hubs sollen zum Beispiel im Hamburger Stadtteil Oberbillwerder entstehen, der nicht komplett autofrei, jedoch möglichst frei von parkenden Autos sein wird. Die elf Mobility Hubs bieten vor diesem Hintergrund Parkplätze für die Quartiersbewohner sowie deren Gäste. Wird das eigene Auto in einem der Hubs geparkt, kann man von dort aus auf andere Verkehrsmittel, wie beispielsweise Fahrräder, E-Bikes oder in Zukunft kleine, autonome Shuttle-Busse umsteigen. Die Hubs sind aber weitaus mehr als eine reine Abstellanlage für Fahrzeuge: Sie sind multifunktionale Quartiers- und Mobilitätszentren, die kleinere Geschäfte sowie kulturelle oder soziale Angebote für die Nachbarschaft bereithalten.

Urban Farming

Biologische Vielfalt, Klimaanpassung und lokale Lebensmittelproduktion – all das und mehr verbirgt sich hinter der Vision des Urban Gardening. Gerade in dichtbesiedelten Quartieren leisten urbane Gärten einen wichtigen Beitrag zur Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks von Städten. Darüber hinaus treiben sie auch die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft voran, indem frühere Betonwüsten in urbane Grünflächen überführt und als kulturelle Begegnungsorte genutzt werden können.
Das bekannteste Urban-Gardening-Projekt dürfte der Prinzessinnengarten im Berliner Stadtteil Kreuzberg sein. Seit 2009 wird dort auf einer Fläche von 5.800 Quadratmetern ein gemeinschaftlicher Nutzgarten betrieben, der eine ehemals brachliegende Fläche in einen ökologischen und sozialen Zukunftsort verwandelt hat.
Einen Schritt weiter gehen Projekte mit Urban Farming. Anders als beim Urban Gardening, wo Nutz- oder Zierpflanzen in der Regel für den Eigenbedarf angebaut werden, sind viele Urban-Farming-Projekte darauf ausgelegt, auch wirtschaftlich tragfähig zu sein. Das größte Urban-Farming-Projekt entsteht derzeit in Paris. In Zukunft sollen auf dem Dach des Messegeländes Paris Expo Porte de Versailles auf einer Fläche von 14.000 Quadratmetern (entspricht etwa zwei Fußballfeldern) rund 30 verschiedene Pflanzenarten gedeihen. Die Pariser Dachfarm wird von dem Unternehmen Agripolis betrieben, das große Pläne für das Projekt hegt: Neben Veranstaltungen und Workshops sollen das geerntete Gemüse und Obst an die Besucher vor Ort sowie an Supermärkte oder Restaurants und Hotels verkauft werden. Im Frühjahr 2020 soll die Farm über den Dächern von Paris eröffnen.

Gebäude erzeugen Grundstoffe

Wie die Zukunft des Bauens aussehen kann, lässt sich auch anhand so genannter Algenhäuser erahnen. Auf dem ehemaligen Gelände der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Hamburg-Wilhelmsburg steht solch ein Gebäude: das BIQ Algenhaus. Die tiefgrüne Fassade des 2013 errichteten Passivhauses besteht aus 200 Quadratmetern Photobiokollektoren, die Mikroalgen enthalten. Mithilfe von Sonneneinstrahlung und durch die Zugabe von Nährstoffen und CO2 werden die Algen solange zum Wachstum angeregt, bis sie geerntet und für die Produktion von Grundstoffen für Nahrungsmittel und Kosmetika oder zur Herstellung von Biogas genutzt werden können. #bild2
Gleichzeitig werden Projekte im Bereich der Klimaanpassung immer wichtiger. Im Zuge des Klimawandels und den damit einhergehenden Folgen, die bereits heute vielerorts in Form von sommerlichen Hitze- und Dürreperioden sowie Starkregenereignissen mit Überschwemmungen spürbar sind, ist es von großer Bedeutung, die städtischen Infrastrukturen entsprechend anzupassen, um deren negative Effekte abzuschwächen.

Grüne Dächer

In diesem Kontext hat sich die Gebäudebegrünung von Dächern und Fassaden als eine wirksame Maßnahme bewährt. Dach- und Fassadenbegrünungen wirken sich aber nicht nur positiv auf das Mikroklima innerhalb eines Quartiers aus, sondern leisten auch einen positiven Beitrag zum Innenraumklima. Auch bei kalten Außentemperaturen wirken begrünte Fassaden und Dächer dämmend. Dementsprechend lassen sich Themen wie Energieeinsparung und Klimaanpassung erfolgreich kombinieren. Ein weiterer Pluspunkt ist die Bindung von CO2-Emissionen aus der Umgebung.
Ein beeindruckendes Beispiel sind die begrünten Zwillingstürme Bosco Verticale eines Hochhauskomplexes in Mailand. Die beiden 110 und 80 Meter hohen Wohngebäude wurden von 2008 bis 2013 errichtet und im Oktober 2014 fertiggestellt. Etwa 900 Bäume, jeder bei der Pflanzung bereits zwischen drei und neun Meter hoch, sowie mehr als 2.000 weitere Pflanzen wurden auf den Terrassen und Balkonen an den Fassaden der Gebäude gepflanzt.
Nachdem in den vergangenen Jahren zumeist der Energiebedarf während der Nutzung des Gebäudes im Fokus stand, kann erst die Betrachtung über den Lebenszyklus Aufschluss über die tatsächliche Qualität eines Gebäudes geben, da diese üblicherweise über sehr lange Zeiträume genutzt werden. Der Lebenszyklus eines Gebäudes setzt sich aus den Phasen Planung, Errichtung, Nutzung (einschließlich Instandhaltung), Modernisierung sowie Rückbau, Verwertung und Entsorgung zusammen. Diese Lebensphasen eines Bauwerks müssen im Hinblick auf die unterschiedlichen Aspekte der Nachhaltigkeit analysiert und in ihrem Zusammenwirken optimiert werden. Zu beachten sind daher auch die Wahl der Baukonstruktion, der Dämmstoffe und weiterer Baukomponenten sowie die Recycling-Fähigkeit der Systeme.

Bauen mit Holz

Wenig verwunderlich erscheint vor diesem Hintergrund der Umstand, dass das Bauen mit Holz verstärkt in den Fokus rückt. Die verschiedenen Holzbaukonstruktionen weisen nicht nur einen um etwa 60 bis 70 Prozent geringeren Energieverbrauch in der Herstellung auf als vergleichbare mineralische Bauweisen, sondern wirken durch die Speicherung von CO2 im Baustoff auch als Kohlenstoffspeicher. So entsteht im südlichen Bereich des Prinz-Eugen-Parks in München mit etwa 570 Wohnungen die größte zusammenhängende Holzbausiedlung Deutschlands. Unterschiedliche Gebäudetypen bis hin zu siebengeschossigen Häusern werden dort errichtet. Im Sinne einer zirkulären Wirtschaft wird zusätzlich verstärkt auf das Prinzip Cradle to Cradle (abgekürzt auch C2C) zurückgegriffen. Hinter C2C (wörtlich: von Wiege zu Wiege) steckt die Idee, dass Produkte von Anfang an in kompletten Produktkreisläufen gedacht werden. Müll im herkömmlichen Sinne entsteht auf diese Art und Weise gar nicht erst, da Produkte so hergestellt werden, dass sie entweder für die Weiterverwendung genutzt oder ohne schädliche Rückstände zur Kompostierung freigegeben werden können. Ein Beispiel ist das von der Landmarken AG in Zusammenarbeit mit Kadawittfeldarchitektur entwickelte Wohnhochhaus Moringa in der Hamburger HafenCity. In Anlehnung an das C2C-Prinzip wird besonders nachhaltig mit recyclefähigen Materialien gebaut. Zusätzlich bietet das Gebäude begrünte Flächen auf den Fassaden und Dächern.

Fazit

Zukünftige Städte bestehen aus klimafreundlich und wiederverwendbar erstellten Gebäuden. Die Hüllen der Gebäude werden intensiver zur Gewinnung von Energie genutzt und für die Klimaanpassung sowie den Ausgleich von verlorenen Grünflächen begrünt. Quartiere werden dichter und gemischter, sie bieten Raum für unterschiedliche Aufgaben und heben Synergien zwischen den verschiedenen Nutzungen. Dies zeigt sich auch in Form von neuen Zentren für nachhaltigen Konsum, lokalen Produktionsstätten und innovativen Mobilitätskonzepten.

Jan Gerbitz und Dorte Pagel

Jan Gerbitz, Dorte PagelJan Gerbitz ist Dipl.-Ing. Architektur und Stadtplanung und seit 2011 Leiter des Geschäftsbereichs Kommunales und Quartiere bei der ZEBAU GmbH. Dorte Pagel ist B. A. Kulturwissenschaften und Digitale Medien und arbeitet bei der ZEBAU GmbH seit 2017 im Bereich Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit.



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