Montag, 18. November 2024

WasserkraftIm Revier der Kleinen Wasserkraft

[01.02.2016] Die Wasserkraft in Baden-Württemberg bis zum Jahr 2020 auszubauen, ist Teil des Integrierten Energie- und Klimaschutzkonzepts des Landes. Auch kleine Wasserkraftwerke werden berücksichtigt. Bei FairEnergie in Reutlingen gehören diese schon länger zur Energiepolitik.
Michael Blümel am unterirdischen Wasserkraftwerk Loh­mühle­wehr.

Michael Blümel am unterirdischen Wasserkraftwerk Loh­mühle­wehr.

(Bildquelle: K21 media AG)

Es geht abwärts. Michael Blümel von FairEnergie, ein Tochterunternehmen der Reutlinger Stadtwerke, hat soeben die Luke eines Metallsockels am Boden geöffnet und ist über eine steile Metalltreppe nach unten gestiegen. Wer oben am Flussufer der Echaz steht, ahnt nicht, dass sich hier ein unterirdischer Raum befindet. Genauer: ein Container, der in Beton unter der Erde eingegossen wurde. In dem Container ist ein komplettes Wasserkraftwerk verbaut. Das so genannte Lohmühlewehr ist eine von sechs Wasserkraftanlagen, mit der FairEnergie CO2-frei Strom gewinnt. Als Projektleiter der Kraftwerke fährt Michael Blümel regelmäßig die Standorte ab und hat gemeinsam mit Mitarbeitern die Technik und die Turbinen im Blick.

Kleine und Große Wasserkraft

Bis auf das Lohmühlewehr stehen die Wasserkraftanlagen von FairEnergie oberirdisch. In einer Sache jedoch gleichen sie sich: Ihr Revier sind kleine Flüsse. Das Wasser, das durch die Turbinen strömt, ist vorher über ein Speicherbecken gelaufen, Speicherseen gibt es keine. Denn FairEnergie investiert in die Kleine Wasserkraft. Die hat laut Definition eine Leistung unter einem Megawatt (MW). Im Südwesten Baden-Württembergs stehen etwa 1.700 solcher Kleinanlagen. Deutschlandweit verfügt Baden-Württemberg nach Bayern über die bedeutendste installierte Gesamtleistung an Wasserkraftanlagen. Wie das Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg mitteilt, trug die Wasserkraft im Jahr 2014 etwa 7,8 Prozent zur Gesamtbruttostromerzeugung bei. Allerdings kamen dabei rund 80 Prozent des Stroms von Anlagen, die mit einer Leistung von über einem MW der Großen Wasserkraft zugerechnet werden. Von der Region für die Region – an den Flüssen Echaz, Erms und Neckar liefern die Kleinwasserkraftanlagen des Reutlinger Stromversorgers nicht nur regenerativ erzeugten Strom, dieser wird auch lokal gewonnen und an die umliegenden Haushalte verteilt. Eine solche Anlage ist die so genannten Alte Dame in Kirchentellinsfurt, die bereits seit dem Jahr 1926 besteht und heute mit einer Leistung von 1.200 Kilowatt (kW) etwa 1.000 Haushalte versorgt. Auch am Diegelewehr in Bad Urach steht eine Anlage. Dieses jüngste Kraftwerk von FairEnergie hat eine Leistung von 25 kW und speist für rund 40 Haushalte Strom ins Netz. In Relation zum gesamten Strombezug im Jahr 2014 machte der Energieanteil der Wasserkraft bei FairEnergie etwas sechs Prozent aus.

Von der Planung bis zum Baubeginn

Als Projektleiter der Wasserkraftwerke von FairEnergie kennt Michael Blümel den Lebensweg dieser Anlagen – von der Konzeption über den Bau bis hin zum Betrieb. „Wer ein Wasserkraftwerk plant, braucht zuerst natürliche Staustufen, eine alte Wehranlage oder ein bestehendes altes Wasserkraftwerk.“ Ist der richtige Standort gefunden, übernimmt ein Fachmann die Grundlagenermittlung. In Beratungsgesprächen mit dem Landratsamt klärt er alle notwendigen Parameter ab. „Schon hier zeigt sich, ob der Bau einer Anlage das Budget sprengt“, weiß Michaela Gilles, Sachbearbeiterin im Reutlinger Landratsamt. Wer merkt, dass Auflagen und Interessen von Naturschutz, Fischerei und Wasserwirtschaft zu hohe Investitionen fordern, rudert schnell zurück. Im besten Fall kann es jedoch mit konkreten Planungen weitergehen, etwa mit der Wahl der Turbinenart. Ob klassische Turbinen, wie Francis oder Kaplan, ein Wasserrad oder eine Wasserschnecke – über die Turbinenart wird anhand des vorhandenen Platzes entschieden. „Am leistungsfähigsten ist die Kaplanturbine, auch wenn sie am meisten Platz benötigt und am teuersten ist“, berichtet Blümel. Nachdem der Fachmann eine komplette Berechnung durchgeführt, die Turbine ausgewählt und die Marge grob ermittelt hat, folgt das Genehmigungsverfahren. Ist der Antrag eingereicht, findet auf dem Landratsamt in Reutlingen ein offenes Verfahren statt. Träger öffentlicher Belange können sich zum Bau des Wasserkraftwerks äußern. Anschließend muss, wenn nicht vorhanden, das Wasserrecht von der Kommune oder einer Privatperson erworben werden. Das gesamte Genehmigungsverfahren bezeichnet Blümel als überschaubare Geschichte. Auch die dafür verwendete Zeit findet er gerechtfertigt. „Es sind aufwendige Projekte, die brauchen einfach auch eine gewisse Sorgfalt.“ Vom ersten Zeitpunkt der Planung bis zum Baubeginn vergehen in der Regel zwei Jahre, für die Bearbeitung der Anträge benötigt das Landratsamt ungefähr ein Jahr. Die Genehmigungskosten für die Anlagen findet Michael Blümel zu hoch. Die liegen in Reutlingen bei 3.600 Euro. Seiner Meinung nach müsste es hierfür eine Förderung geben. Außer der üblichen Zuschüsse aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), kann das Unternehmen jedoch auf keine zusätzliche finanzielle Unterstützung hoffen. Vom Land Baden-Württemberg gibt es das Förderprogramm Kleine Wasserkraft. Als mittelständisches Unternehmen fällt Fair­Energie hier jedoch aus dem Raster. Denn Förderung erhalten nur diejenigen, die beim Bruttoeinkommen und der Mitarbeiterzahl eine bestimmte Grenze nicht überschreiten. Derzeit ruht das Förderprogramm jedoch. Grund dafür ist ein Antrag des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Europäische Komission überprüft, inwiefern Investitionszuschüsse für die Kleine Wasserkraft zusätzlich zur Förderung nach dem EEG zulässig sein können.

Ökologische Voraussetzungen

Wann schließlich der Starttermin für den Bau gesetzt werden kann, hängt mit der Brutsaison der Vögel und der Vegetationsperiode zusammen. „Die ökologischen Auflagen in Reutlingen sind streng und müssen eingehalten werden, da führt kein Weg dran vorbei“, sagt Blümel. Einen übermäßig starken Eingriff in die Natur, wie es oft bei großen Wasserkraftwerken der Fall ist, kann er nicht sehen. Während der Bauarbeiten am Diegelewehr, habe sogar eine Wasseramsel nahe am Wehr gebrütet. Dennoch werden auch die kritischen Stimmen gegen kleine Wasserkraftwerke laut. Professor Klement Tockner vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB): „In Europa boomt der Ausbau von Kleinkraftanlagen. Diese tragen jedoch nur wenig zur Energiesicherung bei, verbrauchen aber überproportional viele natürliche Ressourcen in Form von freifließenden und durchwanderbaren Gewässerabschnitten.” Trotz der EU-Wasserrahmenrichtlinie, in der ein Verschlechterungsverbot für Gewässer verankert ist, würden viele der selbst in Deutschland nur noch selten zu findenden frei­fließenden Bäche unwiederbringlich verbaut. Tockner bezeichnet sich selbst jedoch nicht als Gegner kleiner Wasserkraftwerke. Ihm sei vor allem wichtig, dass die kumulativen Auswirkungen von Wasserkraftwerken betrachtet und Genehmigungsverfahren so transparent wie möglich gestaltet werden. „Doch noch immer unterscheiden sich diese Verfahren teils massiv zwischen einzelnen Regionen“, ergänzt Tockner.

Stillstand kreativ nutzen

Eine weitere Auflage der Behörden in Reutlingen lautet, den Wasserpegel der Flüsse zu halten, an denen Kleinkraftanlagen stehen. Wenn der Regen ausbleibt und Erms, Echaz oder Neckar weniger Wasser führen, müssen die Anlagen zurückfahren, um den Wasserstand nicht noch weiter nach unten zu drücken. Aber auch wenn die Maschinen zeitweise still stehen oder langsamer laufen, die Anlagen bleiben nicht ungenutzt. Das Wasserkraftwerk am Schillergymnasium in Pfullingen beispielsweise dient zusätzlich als Anschauungsobjekt für die Gewinnung von Ökostrom. Über eine Live-Schaltung können Lehrer und Schüler die Daten in Echtzeit verfolgen und im Unterricht verwenden. Auch die Wernersche Mühle hat als Wiege der Reutlinger Energieversorgung eine zweite Bestimmung. In ihrer Getreidemühle errichteten die Müller Martin und Georg Werner vor über 100 Jahren eines der ersten Elektrizitätswerke der Region mit Wasserkraftnutzung. Heute gewinnen moderne Anlagenteile gemeinsam mit einer Turbine aus dem Jahr 1918, Strom für die Region. Die Zeugnisse aus älteren Zeiten können von Besuchern besichtigt werden. „Wer sonst sollte das historische Werk betreiben, wenn nicht der kommunale Energieversorger?“, findet Blümel. In enger Zusammenarbeit mit der Stadt und dem Landratsamt Reutlingen, der Gemeinde Betzingen sowie dem Regierungspräsidium Tübingen hat FairEnergie die denkmalgeschützte Mühlanlage wieder zur Stromerzeugung aus Wasserkraft nutzbar gemacht.
Wie sich die Kleine Wasserkraft in den nächsten Jahren in Baden-Württemberg entwickeln soll, zeigt das Integrierte Energie- und Klimaschutzkonzept der Landesregierung. Darin wird deutlich, dass das Umweltministerium das größte Potenzial im Ausbau und der technischen Modernisierung bestehender Anlagen sieht. Vereinzelt seien auch Neubauten bei Gefällestufen möglich, die wegen wasserwirtschaftlicher Belange nicht zurückgebaut werden können. Mit dem Klimaschutzkonzept wird bis zum Jahr 2020 ein Ausbau der Leistung durch Wasserkraft auf 5,5 Terrawattstunden (TWh) pro Jahr angestrebt. Kleine Wasserkraftanlagen sollen mit 150 Gigawattstunden (GWh) zu diesem Ausbau beitragen. Zum Vergleich: Nach Angaben des Umweltministeriums lag die Stromerzeugung aus Wasserkraft im Jahr 2014 bei etwa 4,6 TWh. Da die Erzeugungswerte allerdings von der Niederschlagsmenge abhängen, können sie sehr schwanken. Im Jahr 2013 beispielsweise, lag der Wert bei nur 5,1 GWh. Die installierte Leistung kleiner Wasserkraftwerke ist im Vergleich zur Netzlast gering. Der Reutlinger Stromversorger zeigt auf dem EEG-Markt dennoch Flagge – den Blick auch auf die Zukunft gerichtet. „Denn ist eine Anlage einmal im Einsatz, strömt das Wasser auch noch 100 Jahre später durch die Turbinen“, betont Heiko Suter, Geschäftsführer von FairEnergie, die Langlebigkeit von Kleinwasserkraftwerken.

Anne Coronel-Lange




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